Seit dem 24. November 2013 geht ein
Text um die Welt, den wohl kirchennahe
und erst recht kirchenferne Menschen
der katholischen Kirche kaum zugetraut
haben. Es ist das erste „Apostolische
Schreiben“ des neuen Papstes in Rom,
der als erster sich durch seine Namensgebung
mit Franziskus von Assisi verbindet.
Vor rund 800 Jahren hat dieser
Francesco („kleiner Franzose“), wie ihn
seine Eltern liebevoll nannten, durch
sein radikales „Verlassen der Welt“
sein neues Verständnis von „Gott und
Mensch“ wieder in diese Welt gebracht
und durch sein Leben beglaubigt. Wegen
seiner Glaubwürdigkeit hatten
manche seiner Zeitgenossen in ihm gar
einen zweiten Christus gesehen.
Mit den Worten „Die Freude des
Evangeliums sei immer in euren
Herzen“ lädt Papst Franziskus
alle „christgläubigen“ Menschen
ein, sich auf „Evangelii Gaudium“, die
Freude des Evangeliums einzulassen
– und könnte damit kaum protestantischer
sein. Evangelium – übersetzt:
frohe Botschaft – ist zum Begriff für
eine Überwindung der Existenzängste,
für eine Befreiung von TINA-diktierten
– „There Is No Alternative“ – sog. Sachzwängen
geworden. Der neue Papst
hat im Grunde von den ersten Minuten
an in seinem Amt durch ebenso überraschende
wie glaubwürdige Gesten
dafür gesorgt, dass seine Worte kaum
Barrieren zu überwinden haben, um
auch bei Menschen anzukommen, die
sich nicht als „christgläubig“ verstehen.
Damit hat der Papst kein Wunder
vollbracht, er hat sich „nur“ voll und
ganz – in Dietrich Bonhoeffers Sinne –
der Diesseitigkeit dieser Welt und der
Aufgabe der christlichen Kirchen in dieser
Welt gestellt: Leben geht vor Lehre,
könnte man seine so überraschend
neu klingende Botschaft auf den Punkt
bringen.
In dieser Betrachtung der umfangreichen
– in 288 Absätze gegliederten
und mit 217 Literaturverweisen versehenen
– päpstlichen Botschaft soll es
in erster Linie um die Abschnitte 52 bis
60 gehen, in denen „Einige Herausforderungen
der Welt von heute“ thematisiert
werden. Diesen rund 3 Seiten Text
kann man unschwer eine der ärztlichen
Professionalität entliehene Gliederung
nach Symptom, Anamnese, Diagnose
und Therapie unterlegen:
Zu den Symptomen erfahren wir:
„Die Menschheit erlebt im Moment eine
historische Wende, die wir an den Fortschritten
ablesen können, die auf verschiedenen
Gebieten gemacht werden.
Lobenswert sind die Erfolge, die zum
Wohl der Menschen beitragen, zum Beispiel
im Bereich der Gesundheit, der Erziehung
und der Kommunikation. Wir
dürfen jedoch nicht vergessen, dass der
größte Teil der Männer und Frauen unserer
Zeit in täglicher Unsicherheit lebt,
mit unheilvollen Konsequenzen. Einige
Pathologien nehmen zu. Angst und Verzweiflung
ergreifen das Herz vieler Menschen,
sogar in den sogenannten reichen
Ländern. Häufig erlischt die Lebensfreude,
nehmen Respektlosigkeit und Gewalt
zu, die soziale Ungleichheit tritt immer
klarer zutage. Man muss kämpfen, um
zu leben – und oft wenig würdevoll zu leben….“
(52)
Ergänzend hierzu wird in den folgenden
Absätzen u. a. der Hunger in der Welt,
das Wegwerfen von Lebensmitteln, die
Spekulation mit Nahrungsmitteln, die
Zunahme des Reichtums Weniger und
der Verarmung Vieler, die ökonomische
Ausbeutung und die soziale Unterdrückung
angeführt.
Die Anamnese ist nicht weniger deutlich:
„Dieser epochale Wandel ist verursacht
worden durch die enormen Sprünge, die
in Bezug auf Qualität, Quantität, Schnelligkeit
und Häufung im wissenschaftlichen
Fortschritt sowie in den technologischen
Neuerungen und ihren prompten
Anwendungen in verschiedenen Bereichen
der Natur und des Lebens zu verzeichnen
sind. Wir befinden uns im Zeitalter
des Wissens und der Information,
einer Quelle neuer Formen einer sehr oft
anonymen Macht.“ (52)
Weiter lesen wir:
Das herrschende „Ungleichgewicht geht
auf Ideologien zurück, die die absolute
Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation
verteidigen. Darum bestreiten
sie das Kontrollrecht der Staaten, die
beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls
zu wachen. …“(56)
Die Diagnose bietet für jedermann nachvollziehbare
Erklärungen:
Die unübersehbare, zunehmende soziale
Ungleichheit hat sich nicht einfach so
ergeben:
„… Heute spielt sich alles nach den Kriterien
der Konkurrenzfähigkeit und nach
dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der
Mächtigere den Schwächeren zunichte
macht. Als Folge dieser Situation sehen
sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen
und an den Rand gedrängt:
Ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg.
Der Mensch an sich wird wie ein
Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen
und dann wegwerfen kann. Wir haben
die ‚Wegwerfkultur‘ eingeführt, die
sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr
einfach um das Phänomen der Ausbeutung
und der Unterdrückung, sondern
um etwas Neues: Mit der Ausschließung
ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft,
in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen,
denn durch sie befindet man sich nicht in
der Unterschicht, am Rande oder gehört
zu den Machtlosen, sondern man steht
draußen. Die Ausgeschlossenen sind
nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern Müll, ‚Abfall‘.“
(53)
Die „Trickle-Down-Theorie“ geht davon
aus, „dass jedes vom freien Markt begünstigte
Wirtschaftswachstum von sich
aus eine größere Gleichheit und soziale
Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag.
Diese Ansicht, die nie von den Fakten
bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes,
naives Vertrauen auf die Güte
derer aus, die die wirtschaftliche Macht in
Händen halten, wie auch auf die vergötterten
Mechanismen des herrschenden
Wirtschaftssystems. … Um einen Lebensstil
vertreten zu können, der die anderen
ausschließt, … hat sich eine Globalisierung
der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast
ohne es zu merken, werden wir unfähig,
Mitleid zu empfinden gegenüber dem
schmerzvollen Aufschrei der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts des Dramas
der anderen, noch sind wir daran
interessiert, uns um sie zu kümmern, als
sei all das eine uns fern liegende Verantwortung,
die uns nichts angeht. Die Kultur
des Wohlstands betäubt uns….“ (54)
Ein Grund für die in (54) geschilderte Situation
„… liegt in der Beziehung, die wir
zum Geld hergestellt haben, denn friedlich
akzeptieren wir seine Vorherrschaft
über uns und über unsere Gesellschaften.
Die Finanzkrise, die wir durchmachen,
lässt uns vergessen, dass an ihrem
Ursprung eine tiefe anthropologische Krise
steht: die Leugnung des Vorrangs des
Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen.
Die Anbetung des antiken goldenen
Kalbs (vgl. Ex. 32, 1–35) hat eine
neue und erbarmungslose Form gefunden
im Fetischismus des Geldes und in
der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht
und ohne ein wirklich menschliches
Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanzwesen
und die Wirtschaft erfasst, macht
ihre Unausgeglichenheiten und vor allem
den schweren Mangel an einer anthropologischen
Orientierung deutlich – ein
Mangel, der den Menschen auf nur eines
seiner Bedürfnisse reduziert: Auf den
Konsum.“ (55)
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