Wohlstand ohne Zinsen – Bernhard von Sydow
Auf der Universität wird gelehrt, dass die Zinsen eine Belohnung für den Konsumverzicht eines Menschen sind. Diese Begründung ist auf den ersten Blick absolut verständlich und plausibel. Dass dagegen das Christentum in seiner ursprünglichen Lehre – wie andere große Religionen auch – es ablehnt, dass die Menschen Zinsen für ihr verliehenes Geld nehmen, wird von den meisten verdrängt, sofern dieses Gebot ihnen überhaupt bekannt ist. Zudem leben wir schon seit Jahrhunderten mit der Vorstellung, für unser Geld Zinsen zu bekommen. Daher können wir uns eine optimale Volkswirtschaft ohne Zinsen überhaupt nicht mehr vorstellen. Darüber hinaus wird die Methode, eine Gebühr für aufbewahrtes Geld (Liegegebühr) zu erheben, ohnehin für völlig absurd gehalten.
Doch die Realität sieht anders aus. Bernard A. Lietaer beschreibt in seinem Buch „Mysterium Geld“ zwei Epochen, in denen eine Marktwirtschaft ohne Zinsen und mit einer Anti-Hortungsgebühr zu einem „außergewöhnlichen Wohlstand“ der gesamten Bevölkerung geführt hat, nicht nur einer bestimmten Schicht: Einmal eine Epoche im alten Ägypten und dann die Zeit des Hochmittelalters, also etwa vom 10. bis 13. Jahrhundert.
Zwar unterschieden sich die Modalitäten, unter denen die Gebühren auf das Geld erhoben wurden, in den beiden Zeitaltern. In Ägypten war das System der Liegegebühren auf geparktes Geld „höher entwickelt als das mittelalterliche“. Doch trotz der unterschiedlichen Mittel fielen die Resultate in Ägypten und im Hochmittelalter „unerwartet ähnlich“ aus. Das Geld war zwangsläufig „nur“ Tauschmittel und kein
Wertgegenstand, der dazu anreizt, es zu horten. Es war wesentlich sinnvoller, Ersparnisse in Form von Produktionsgütern anzulegen, die lange Bestand hatten, als in Form von Geld. Es gab keine Spekulanten, die auf Kosten einer verarmten Bevölkerung immer reicher wurden. Das Geld blieb dort, wo es gebraucht wurde. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes blieb also hoch. Das Geld wurde nicht zunehmend knapper.
Im alten Ägypten dauerte diese Epoche einer intakten Volkswirtschaft wesentlich länger als diejenige im Mittelalter. Man schätzt diese Zeit auf immerhin 1.500 Jahre. Das alte Ägypten mit seinen hohen Getreideerträgen wird ja bekanntlich als die „Kornkammer der Antike“ bezeichnet. Diese Zeit des Wohlstandes und des Reichtums endete allmählich durch den griechischen Einfluss, der sich dort ausbreitete. Später ersetzten die Römer das dortige Währungssystem „durch ihr eigenes monetäres System“, das sich ebenfalls negativ auf die Volkswirtschaft auswirkte.
Im Hochmittelalter war die Phase wirtschaftlicher Expansion von einer starken Zunahme der Bevölkerung begleitet. Zwischen etwa den Jahren 1.000 und 1.300 verdoppelte sie sich im europäischen Raum von ca. fünf auf zehn Millionen Menschen. Die Bodenerträge stiegen. Im Gewerbe kam es zu einer weiteren Spezialisierung und Arbeitsteilung. Es bildete sich ein Markt für agrarische und gewerbliche Produkte.
In dieser Zeit entstanden auch die meisten der berühmten und prächtigen Kathedralen. Sie gehörten – auch
das ist wenig bekannt – weder der Kirche noch den Fürsten, sondern dem einfachen Volk, meist den Bürgern der Stadt, in der sie erbaut worden waren. Sie wurden auch von diesen finanziert. Die Kirche besaß selbstverständlich ihre „privilegierten Zeiten“, in denen die Gottesdienste stattfanden, sowie ihren „privilegierten Raum“ (den Chor um den Altar).
B. A. Lietaer verdeutlicht in folgender Schilderung aus dem normalen Leben die damalige Situation sehr anschaulich:
„Natürlich gibt es für die damalige Zeit keine ‚Statistik‘ in unserem heutigen Sinne… Dennoch besitzen wir aussagekräftige Quellen. So berichtet beispielsweise Johann Butzbach in seiner Chronik: ‚Die gemeinen Leute hatten selten weniger als vier Gänge bei der Mittagsund Abendmahlzeit. Sie aßen Getreide und Fleisch, Eier, Käse und Milch zum Frühstück, und um 10 Uhr morgens und noch einmal um vier Uhr nachmittags
eine leichte Mahlzeit.‘ Der Historiker Fritz Schwartz brachte die Verhältnisse auf den Punkt: ‚Kein Unterschied zwischen Bauernhaus und Schloß.‘
Für die Gesellen war der sogenannte blaue Montag frei. Während der Sonntag als der ‚Tag des Herrn‘ galt, an dem man sich um öffentliche Angelegenheiten kümmerte, war der Montag der Tag, an dem die Menschen Zeit für ihre Privatangelegenheiten hatten, Zusätzlich gab es mindestens 90 offizielle Feiertage im Jahr! Daher arbeitete ein Geselle im Durchschnitt nicht mehr als vier Tage in der Woche. Außerdem war auch die Zahl der Arbeitsstunden pro Tag begrenzt. Als die Herzöge von Sachsen die Arbeitsstunden von sechs auf acht
Stunden am Tag ausdehnen wollten, revoltierte das Volk. Die Herzöge mussten ihre Untertanen zudem ermahnen, dass ‚Arbeiter nur vier Gänge bei jeder Mahlzeit‘ erhalten sollten.
Die Bauern, die als niedrigster Stand galten ‚trugen Silberknöpfe an Weste und Mantel, meist in Doppelreihen, und verwendeten silberne Schnallen und Verzierungen für ihre Schuhe‘. Soziale
Unterschiede zwischen hohem und niedrigem Stand, Adel und Bauern, waren deutlich geschrumpft.“
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