Wir verbringen einen großen Teil unserer Zeit mit Dingen, die uns nicht wirklich glücklich macht: Arbeiten, Kaufen, Konsumieren. Die wahren Quellen des Glücks liegen aber im „inneren Selbst“. Warum wir dennoch das Glück im Außen suchen, hängt mit unserem modernen Geld zusammen.
Vermutlich kennen Sie die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral von Heinrich Böll (1963). Darin beschreibt er einen ärmlich gekleideten Fischer, der in einem Hafen an der Westküste Europas schläft. Er
wird durch das Klicken des Fotoapparates eines Touristen geweckt. Der Tourist fragt den Fischer, warum er denn nicht fische, wo doch so ideales Wetter dafür sei. Nach einigem Zögern antwortet der Fischer, dass er heute schon draußen gewesen sei und einen so guten Fang gehabt hätte, dass es für die nächsten Tage noch reiche. Nach einigem Zögern geht mit dem Touristen die Phantasie durch: Wenn der Fischer heute doch noch drei- oder viermal hinausfahren würde, dann würde er viel verdienen. Damit könnte er mittelfristig ein kleines Unternehmen gründen und immer weiter wachsen. Das Unternehmen könnte so groß werden, dass er sogar ins Ausland Fische liefern könne. Und, dann – der Tourist kommt zum Ende seiner Phantasiereise – dann hätte der Fischer genug verdient, um einfach am Hafen sitzen und sich ruhig entspannen zu können. Darauf entgegnet der Fischer gelassen, am Hafen sitzen und sich entspannen könne er doch jetzt schon. Das mache er ja gerade. Daraufhin verschlägt es dem Touristen die Sprache, nachdenklich und ein wenig neidisch geht er fort.
Ich denke, an dieser kleinen Geschichte werden zwei konträre Weltanschauungen deutlich. Der Fischer lebt im „Hier und Jetzt“. Er hat heute genug für seinen Lebensunterhalt getan, ja er hat sogar so viel gefangen, dass er an den nächsten Tagen nichts tun muss. Freilich: Er ist ärmlich gekleidet, er besitzt vermutlich selbst keinen Fotoapparat und er kann sich vermutlich auch keine teuren Touristenausflüge leisten. Aber ich stelle mir ihn als einen glücklichen und zufriedenen Menschen vor: Er verfügt über wenig materiellen Reichtum, aber er hat einen großen Luxus an frei verfügbarer
Zeit: Er hat so Zeit für ein Schläfchen am helllichten Tag. Er hat vermutlich auch Zeit für seine FreundInnen, seine Kinder, seine Leidenschaften; ja Zeit, um mit sich (seinem „inneren Selbst“) in gutem Kontakt zu stehen. Der Fischer steht für die Überzeugung, dass sich das „gute Leben“ einstellen wird, wenn wir unsere Lebenszeit für eine gute Beziehung zu unserem Selbst und zu unseren Mitmenschen aufbauen; oder in anderen Worten.
Die gegenteilige Weltanschauung verkörpert der Tourist: Das gute Leben ist demnach nicht im Inneren, sondern ausschließlich im Außen zu finden. In der Phantasie des Touristen wird sich das gute Leben für den Fischer dann einstellen, wenn er viel arbeitet, die Gewinne gut anlegt und ein immer größeres Unternehmen aufbaut. Anders ausgedrückt: Er würde seine Lebenszeit für die Produktion von immer mehr Tauschwerten verwenden und – weil er das Erarbeitete nicht ausgibt – von der Funktionslogik des Kapitalismus profitieren: Wenn der Fischer Geld sparen kann und dieses im eigenen Unternehmen investiert, so muss das investierte Kapital jedenfalls eine Rendite abwerfen, die so hoch ist wie eine alternative Veranlagungsmöglichkeit. Aus dem Fischer-Unternehmer ist längst da schon ein Kapitalist geworden. Mit steigendem Reichtum erhält er immer höhere Reichtumsprämien. Und dann – irgendwann einmal – könnte es den Punkt geben, wo der Fischer so reich geworden ist, dass sein Geld so sehr für ihn arbeitet, dass er selbst nicht mehr arbeiten müsse und zufrieden in der Sonne liegen könne. Freilich hat diese Vorstellung einen Pferdefuß: Denn wenn der reiche Fischer – selbst bei großem Reichtum – auf Müßiggang verzichtet und mehr arbeitet, kann er seinen materiellen Luxus weiter steigern. Das heißt: Es wird den Punkt, wo er sich wirklich ausruht, kaum einmal geben. Denn er steht beständig unter der Anreizwirkung des modernen Geldes. Diese besagt: Wer im „Hier und Jetzt“ Tauschwerte produziert und spart, wird in der Zukunft eine Prämie erhalten. Was wir bei der Betrachtung dieser Lebensweise meist vergessen: Trotz Reichtums verzichtet unser Unternehmer-Fischer auf sehr viel: auf Zeit für sich, für seine FreundInnen, für seine Selbstentfaltung, für seine
Kinder. Er mag materiell reich sein, aber arm an Beziehungen, Leidenschaften und schönen Augenblicken.
Die Logik des modernen Geldes schafft einen permanenten materiellen Anreiz das Glück im Außen zu suchen: Reichtum, Leistung und Arbeit wurden im Kapitalismus zur vermeintlichen Quelle des Glücks. Oder mit den Worten des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679): Das Glück des Erdenlebens bestehe nun nicht mehr in der „ungestörten Seelenruhe“, wie es unser Fischer verkörpert, sondern „im Fortgang von einem Wunsch zum anderen, wobei die Erreichung des ersteren immer dem folgenden den Weg bahnen muss.“
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