Vom globalen zum lokalen Wirtschaften – Gerhard Senft
Im Mainstream der Meinungen hat sich seit den 1990er Jahren die Vorstellung von Globalisierung als eines positiv zu bewertenden und irreversiblen Prozesses herausgebildet. Die Pandemie 2020 und die entsprechenden Bewältigungsversuche haben uns im Hinblick auf das ökonomische Geschehen jedoch gelehrt, auf das zu achten, was unverzichtbar ist: „Wirtschaftliches Tätigsein bedeutet zuallererst die Organisation unad Sicherung der Lebensgrundlagen. Wirtschaft dient dem menschlichen Zusammenleben und der Aufrechterhaltung des Alltags. In diesem Sinne ist die Wirtschaft stets eingebettet in die Gesellschaft“ (Bärnthaler; Novy 2020, 16). Konkret geht es um die Versorgung mit Lebensmitteln, Wohnraum, Bekleidung, Energie, Wasser und um das Gesundheitswesen. Die Verbreitung von Covid-19 hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Alltagsökonomie anders funktioniert, als globale Märkte für Waren und Dienstleistungen. Wesentlich geht es in der Alltagsökonomie um längerfristiges ökonomisches Denken und um enges Kooperieren, nicht um kurzfristige Gewinnmaximierung und um bedingungslosen Wettbewerb. Das Rückgrat der Gesellschaft bilden die arbeitenden Menschen, jene Menschen, die den Alltag organisieren.
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Globalisten betonen stets die Vorteile der Auslagerung von Produktion und der Verschlankung der Strukturen sowie die damit verbundenen Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen. Naheliegenderweise wurde Globalisierung bisher immer im Zusammenhang mit Einkommen steigernden Effekten gesehen. (Wenn diese Behauptung stimmen würde, wären weltweit derart unglaubliche Reichtümer angehäuft, dass die Corona-Krise locker zu bewältigen ist.) Dass mit zunehmendem Komplexitätsgrad die systemischen Risiken zunehmen, jede Wirtschaft damit anfälliger und instabiler wird, konnte/wollte man nicht zur Kenntnis nehmen. Heinz von Förster war überzeugt, dass jedes menschliche Handeln so angelegt sein sollte, dass damit die Zahl künftiger Optionen gesteigert wird (Förster 1993.) Die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der vergangenen Jahrzehnte brachten jedoch genau die gegenteilige Entwicklung, sodass heute keine ausreichenden Reserven, zu wenig Redundanzen, und kaum Alternativen zur Verfügung stehen (Vgl. Turner; Seifert 2020, 19). Das besonders Problematische dabei ist, dass das Einschwenken auf neue Pfade nun einen erheblichen Zeitaufwand erfordern wird.
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Der verlorene Glanz der Globalisierung
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Allerdings ist festzustellen, dass die Euphorie über die fortschreitende Globalisierung bereits vor Ausbruch der Pandemie erheblich abgenommen hat (Harold 2017). Darauf deutet eine Reihe von Indizien hin: So haben sich etwa die weltweiten Finanzflüsse schon vor geraumer Zeit zu reduzieren begonnen. Während die weltweiten Direkt-Investitionen (FDI) zwischen 1990 und 2000 beständig zunahmen, war zu Beginn des neuen Jahrhunderts ein Einbruch zu verzeichnen (Platzen der Dotcom-Blase, 9/11-Effekte). Bis zur Finanzkrise 2008 stiegen die FDI wieder an und erreichten einen absoluten Höchststand von 1,9 Billionen US-Dollar, um danach schlagartig wieder einzubrechen. Nach einer langsamen Erholung bis 2011 kam es zu einem neuerlichen Absinken bis zum Jahr 2014 (1,35 Billionen US-Dollar). Zwar gab es danach wieder einen Anstieg, doch bereits 2018 wurde das Niveau von 2014 unterschritten (World Bank Group, 2020).
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Mittlerweile scheint sich herumgesprochen zu heben, dass die Auslagerung von Produktionsstätten in Low-Cost-Countries nicht die erwarteten Einsparungen bringt. Unternehmen gehen meist von den „Total Landed Costs“ aus, also jenen Kosten, die sämtliche Einzelteile eines Produkts hinsichtlich Herstellung und Logistikaufwand verursachen. Damit wird das Augenmerk bevorzugt auf das niedere Lohnniveau in Nachzügler-Ländern gerichtet. Wesentlichen Anteil haben jedoch auch der Aufwand für Forschung & Entwicklung sowie die Kosten aus Absatz und Transport des Finalprodukts. Länder wie China haben bei den Löhnen inzwischen nachgezogen, sodass die weltweiten Unterschiede nicht mehr so gravierend sind, wie noch vor wenigen Jahren. Bereits 2011 veröffentlichte die Boston Consulting Group eine Studie, nach der die Kostendifferenzen zwischen den Vereinigten Staaten und China nicht mehr als 10–15 Prozent betrugen (Livesey 2017, 20).
Bei der ganzen Auslagerungsdebatte wurde bisher auch zu wenig mitgedacht, dass Innovationen ein vitaler Bestandteil des Wohlstandes eines Wirtschaftsgebietes sind – unabhängig davon, ob es sich um neue Produkte oder um Herstellungsverfahren handelt. Jede Auslagerung führt mittelfristig dahin, dass notwendiges technisches Wissen entweder verloren geht oder gar nicht erst entsteht. Amazon konnte sein hauseigenes Produkt Kindle 2 nicht in den USA fertigen lassen, da das Know-how für den Zusammenbau des Displays schlicht fehlte. Apple z. B. bezieht heute den Großteil seiner OLED-Bildschirme für Smartphones aus dem asiatischen Raum (Livesey 2017, 15). Je größer aber die Wissenslücken werden, desto gewaltiger werden einmal die Anstrengungen sein müssen, die Defizite auszugleichen. Die Firmengeschichte von IBM sollte als Schreckensbeispiel noch in Erinnerung sein. Der EDV-Branchenriese hatte sich zu lange als unschlagbar eingeschätzt und dabei den Höhenflug des Personal-Computers verschlafen. Der gewachsene Rückstand war in den 1990er Jahren nur unter Aufbietung sämtlicher verfügbarer Kapazitäten aufzuholen. Dennoch lag IBM mit seinem Börsenwert 1993 markant unter dem von Microsoft.
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Die Neuausrichtung des Produktionssektors
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Die neueste technische Entwicklung (Stichwort: Industrie 4.0) scheint sich aber ohnehin in eine Richtung zu bewegen, in der eine Verlagerung von Produktionsstätten verzichtbar wird. Der Harvard Book Store in Boston verfügt seit einiger Zeit über einen speziellen Drucker mit dem klingenden Namen „Paige M. Gutenborg“. Das Gerät ist imstande, ein Buch ebenso rasch zu fertigen wie ein Kaffeeautomat einen Cappuccino. Der Buchhändler benötigt keinerlei Lager, das ganze Verfahren funktioniert ohne langwierigen Bestellvorgang. Lediglich die Abrechnung mit dem Verlag wäre noch zu erledigen, nachdem das Werk über den Ladentisch gegangen ist. Durch 3‑D-Druck und ähnliche Anwendungen wird sich der Produktionsprozess noch mehr auf eine kundenindividuelle Fertigung umorientieren. Sportartikelhersteller können inzwischen schon etwa bei Turnschuhen das Design und die Farbgestaltung bestimmen und so jedem Kunden sein Unikat zukommen lassen. Sobald 3‑D-Drucker entsprechend kostengünstig geworden sind, wird sich auch die Zahl der „Prosumenten“, die ihre selbst entworfenen Alltagsgegenstände verwenden, rasch steigern (Bergmann 2004, 262 ff).
Die in Gang befindliche Automatisierung macht das Offshoring…
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„Globalisten aller Länder, entschuldigt Euch!“
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