Der europäische Gedanke in höchster Gefahr
Bild Von Martin Bangemann, North Carolina © 2010, Martin Bangemann
Domino-Party
Nach dem Vorbild der Boston-Tea-Party wird es wohl den bürgerlichen Widerstand gegen politische Hilflosigkeit und Konzeptlosigkeit brauchen. Das Bild des Staates und der Volksvertreter als Gejagte eines entfesselten Kapitalmarktes ist für immer mehr Menschen unerträglich.
Ganz offensichtlich schlittern die Staaten und mit ihnen ihre Bürger immer tiefer in einen Schlamassel, aus dem ein Ausweg nicht erkennbar ist.
Sicher scheint nur, dass die Politik zu Handlungen gezwungen wird, die durch den Kapitalmarkt diktiert werden. Möglich wird das, weil über allem der Zusammenbruch des gesamten Wirtschaftssystems schwebt. Zu dessen Rettung erklärt man sich zu allem bereit, koste es was wolle.
Die Frage, nach dem „Warum?“ ist sinnlos geworden. Die Politik reagiert nur noch.
Bedeuten die Rettungsversuche nichts anderes als ein Hinauszögern des Zusammenbruchs? Wird dieser Zusammenbruch nicht durch jede lebensverlängernde Maßnahme nur noch schmerzhafter?
Das kurzfristige Denken in der Wirtschaft – gerade noch bis zum nächsten Quartalsergebnis – ist auch in der Politik Usus geworden. Kein Innehalten, kein tiefer gehendes Nachdenken, keine Spur von Nachhaltigkeit.
Erdrückende Schulden
Mit dem stets als heilvoll angesehenen Wachstum der Geldvermögen sind die Schulden mit gewachsen. Doch während alles natürliche Wachstum mehr den physikalischen Gesetzen gehorcht, unterliegt das der Schulden mehr den Gesetzen der Mathematik. Geldvermögen und Schulden verrotten im Laufe des Lebens nicht. Im Gegenteil sie wachsen um etliche Prozent pro Jahr nach den mathematischen Gesetzen der Zins- und Zinseszinsrechnung. Das kann viel Jahre und Jahrzehnte gut gehen, aber eben nicht ewig. Der reale Reichtum, das, was wir zu leisten imstande sind und das, was wir der Natur entnehmen können, unterliegen der zerstörerischen Kraft der Entropie. Das Wachstum dieses materiellen Reichtums müsste jedoch mit dem Wachstum der Geldvermögen und Schulden mithalten, wenn es nicht zum Zusammenbruch kommen soll.
Weil dem nicht so ist, gelangen wir an den Punkt der Nichtanerkennung von Schulden und Geldvermögen. Das dauerhafte positive Feedback der Zinseszinsen muss und wird durch Gegenkräfte ausgeglichen werden. Die Nichtanerkennung der Schulden äußert sich uns in drei möglichen Szenarien (oder einem Mix aus ihnen): Bankrott (Insolvenz), Inflation oder räuberische Besteuerung. Allen dreien lastet noch etwas Weiteres an, weshalb die Wahl zwischen ihnen – und davor stehen wir heute – nichts anderes ist, als die des kleineren Übels: sie rufen alle Gewalt hervor.
Sowohl die Insolvenz als auch die Inflation wären Lösungen, die zu einem sofortigen mit großen Risiken behafteten Handeln der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft führen müssten und mit der Übernahme großer Verantwortung einherginge. Deshalb greift die Politik zu der das eigentliche Problem vertagenden räuberischen Erpressung.
Die Belastung der Steuerzahler mit angeblich unausweichlich notwendigen Zahlungen an die Schuldner, die als erstes unter der Last zusammenbrechen zu drohen, ist eine solche räuberische Erpressung. Die Drohung „Wenn Ihr nicht zahlt, wird alles zusammenbrechen“ kann nicht anders bewertet werden. Man gaukelt uns vor, dass die Staatshilfen für die großen Banken und zahlungsunfähigen Staaten zurück fließen würden, wenn die jeweilig Begünstigten erst wieder auf die Beine gekommen sind. In Wahrheit besteht überhaupt keine Aussicht darauf.
Die Milliarden aus der EU und vom IWF fließen direkt in den Kapitalmarkt. Während Deutschland bei den Hilfen von der EU größter Zahler ist, sind wir bei den IWF-Krediten einer von vielen (Anteil derzeit 5,88%).
Griechenland wird mit den Krediten seine Zinsen bezahlen und seine auslaufenden Staatsanleihen. Die genaue Zahl, wie viel Geld Griechenland braucht um drei Jahre lang nicht auf Kredite vom Kapitalmarkt angewiesen zu sein, steht noch nicht fest, soll sich aber auf mindestens 120 Milliarden Euro belaufen.
Die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands werden von den Hilfsmaßnahmen nicht einen Cent bekommen.
Griechenland wird mit dem bereit gestellten Geld ein Sparprogramm aufgezwungen, das die Bevölkerung niemals mittragen wird, denn es bedeutet eine dramatische Verschlechterung ihres Lebensumfeldes.
Und hinter dem Horizont, in dem malerisch die griechische Abendsonne im Meer versinkt, warten Portugal, Spanien und Italien auf ein ähnliches Schicksal. Spätestens, wenn die vermeintlich stärkeren Länder in der EU bis an ihre eigene Schmerzgrenze und der ihrer BürgerInnen gelangt sind, tritt die endgültige Nichtanerkennung der Schulden in Form der verbleibenden Szenarien in Gang.
Während das eigentlich zum Wesen des Kapitalismus gehörende Insolvenzrecht im Falle von Banken und Staaten im wahrsten Sinne des Wortes „ums Verrecken“ nicht angewendet wird, wird die Nichtanerkennung durch Inflation das Spiel beenden müssen. Unruhen, Gewalt, Bürgerkrieg und unendliches Leid wird damit verbunden sein.
Gibt es einen Ausweg?
Ich behaupte noch gibt es ihn. Aber wir werden ihn schnell beschreiten müssen.
Wenn Politiker und alle an den derzeitigen Maßnahmen Beteiligte einmal offen die Wahrheit sagen würden, würde der Druck aus der Bevölkerung hin zu der letzten noch nutzbaren Chance wachsen.
Der Wahrheit die Ehre
Die Wahrheit ist: Mit allen bis jetzt geplanten Maßnahmen werden in erster Linie die Geldvermögen einer vergleichsweise sehr kleinen Élite gerettet. Die weltweite Verteilung von Geldvermögen ist ein offenes Geheimnis. Rund 10% der Weltbevölkerung gehört 85% der gesamten Geldvermögen Dabei handelt sich um eine Entwicklung die rasant zu Gunsten der Reichsten weiter läuft. Diese Verhältnisse spiegeln sich, marginal abweichend, auch in einzelnen Ländern bis in die EU hinein wieder. In Deutschland halten die reichsten 10% der Bevölkerung rund 2⁄3 des Gesamtgeldvermögens.
Damit ist aber auch klar, wer die Profiteure der Rettungsmaßnahmen von EU und IWF zu rund 70% sein werden: die reichsten 10% der Welt. Sie sind die Gläubiger, direkt oder indirekt, die das Geld von den Steuerzahlern aus den Ländern der EU erhalten werden. Das bezieht sich nicht nur auf Griechenland. Mit jeder Bankenrettung (HRE, IKB, usw.) werden die Steuerzahler zur Erhaltung einer über alle Maßen ungerechten Vermögensverteilung herangezogen. Dabei haben die Geldanleger ihr Risiko in aller Regel selbst gewählt. Heute stellt es sich so dar, dass die Staaten eine kostenlose „Versicherung“ für Geldanlagen von Superreichen eingerichtet haben, an die nie jemand eine Zahlung geleistet hat.
Wann purzeln die Pfunde? Bild © 2010, Martin Bangemann
Worin besteht also unsere Chance?
Zunächst müssen wir im System bleiben und die Insolvenz als ein aktiv eingesetztes Mittel (PDF) klug anwenden. Die EU kann als Insolvenzverwalter eingesetzt werden und – wie das auch Wirtschaftsleben tagtäglich geschieht – alles daran setzen, Griechenland zu retten. Die Gläubiger werden – wie bei jeder Insolvenz – auf große Teile ihrer Ansprüche verzichten müssen. Um den schützenswerten „kleinen Sparer“ nicht in einen Topf mit den Superreichen dieser Welt zu werfen, kann im Rahmen des Insolvenzverfahrens eine soziale Komponente zum Tragen kommen, die vorsieht, dass Geldvermögen in Einzelfällen bis zu einer gewissen Höhe ganz gesichert werden. Im Falle Griechenlands wird es solche Fälle nur indirekt geben, weil kleine Anleger bei Banken angelegt haben, die wiederum als Halter der Staatsanleihen fungieren. Der durch die Insolvenz Griechenlands und eventuell anderer Länder zu erwartende Dominoeffekt in Bezug auf Banken sollte bedacht werden, darf uns aber am Beschreiten des Weges, den diese letzte Chance bietet nicht hindern. Er kommt früher oder später sowieso. Jene Banken, die von der Griechenland-Insolvenz betroffen wären, wackeln alle schon seit langem. Die Insolvenz der Banken bietet die gleichen Chancen zu politischem aktivem Handeln, wie die der Länder. In diesem Szenario kann die Politik die Vorgaben machen und die Finanzmarktakteure können nur reagieren. In jedem anderen Szenario wäre es umgekehrt und am Ende stünde der totale Zusammenbruch.
Fazit und Ausblick
Die Insolvenz von Ländern und Banken ist steuer- und gestaltbar. Der Kapitalmarkt im heutigen Zustand nicht. Nach einer Insolvenz werden Schulden und Geldvermögen auf ein der Realwirtschaft angemessenes Maß zurückgeschnitten worden sein.
Natürlich gehört zu dem dann folgenden Neustart auch ein neues Geldsystem. Geld, das sich durch Zins und Zinseszins abgekoppelt von der Leistungskraft der Wirtschaft entwickeln kann, darf es nicht mehr geben. Geld muss den Gesetzen der Entropie unterworfen werden, wie alles in der Natur Vorhandene. Die Lösungsansätze dafür gibt es. Kluge und weitsichtige Denker, wie Silvio Gesell oder in der heutigen Zeit Helmut Creutz haben entscheidende Vorarbeit dazu geleistet. Darauf aufbauend Zukunftslösungen zu entwickeln wird unsere letzte Chance sein, wenn wir den totalen Zusammenbruch vermeiden wollen.
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