Das parasitäre Prinzip
Über die strukturelle Invasion des Kapitalismus in die Marktwirtschaft
Das vorherrschende Wirtschaftsmodell, oft als Neoliberalismus oder finanzmarktgetriebener Kapitalismus bezeichnet, basiert auf der Prämisse unendlichen Wachstums auf einem endlichen Planeten. Doch was wäre, wenn wir einem fundamentalen Denkfehler aufsitzen? Was, wenn Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht die siamesischen Zwillinge sind, als die sie uns die Lehrbücher präsentieren? Diese ketzerische Unterscheidung zu treffen, mag zunächst absurd erscheinen – schließlich gilt ihre Einheit als ökonomisches Naturgesetz. Doch genau hier liegt der Schlüssel zu einer revolutionären Erkenntnis: Nur wenn wir begreifen, dass der Kapitalismus die Marktwirtschaft wie ein Parasit befallen hat, können wir das eine vom anderen befreien. Eine chirurgische Trennung, die das wirtschaftliche Denken auf den Kopf stellt – und vielleicht unsere einzige Chance auf dem Weg in eine lebenswerte Zukunft darstellt.
Die Marktwirtschaft lässt sich als ein organisches Geflecht von Abhängigkeiten begreifen, in dem Anbieter und Nachfrager in einem dynamischen Spannungsfeld die Bedingungen des Austausches aushandeln. Sie bildet das Grundgerüst wirtschaftlichen Handelns, eine Art ökonomische Grammatik der Gesellschaft. In dieses System jedoch haben wir den Kapitalismus eingenistet – ein Geld- und Finanzsystem, das zwar als neutrales Element gilt, sich aber zu einem parasitären Subsystem entwickelt hat. Es wirkt als metastatische Kraft, die das umgebende Wirtschaftsgefüge von innen heraus kolonisiert und toxisch transformiert.
Die dem Kapitalismus zugrunde liegende Formel M‑C-M’ – die Verwandlung von Geld (M) über die Kommodifizierung © von Arbeitsleistungen und physischen Ressourcen in mehr Geld (M’) – entfaltet eine unaufhörliche Kettenreaktion: M‑C-M’-C‑M“-… Dabei strebt M’ gegen unendlich. Dies gleicht einem Schneeball, der zur Lawine wird: Was als kleines Kügelchen beginnt, wächst durch das exponentielle Wachstum der Geldvermögen zu einer alles verschlingenden Masse heran, die sich in grotesker Ungleichverteilung über die Gesellschaft ergießt. Diese scheinbar abstrakte Formel hat konkrete Auswirkungen: Sie zwingt die Akteure der Marktwirtschaft in ein Korsett anormaler Aktivitäten und unterwirft sie der Logik der Kapitalakkumulation, die sich im Zins- und Zinseszinsmechanismus perpetuiert.
Das Perfide an diesem Subsystem ist seine Unsichtbarkeit. Während die Wirtschaftswissenschaft Geld als neutrales Medium preist, entfaltet es in Wahrheit ein virulentes Eigenleben. Es wirkt wie ein Nervengift, das sich unerkannt über alle Ebenen der Marktwirtschaft verteilt: von unten nach oben, von oben nach unten, von innen nach außen und wieder zurück. Es schafft Machtverhältnisse, die eine besondere Täuschung erzeugen: Die Reichen und Mächtigen erscheinen als Schöpfer des Systems, dabei sind sie lediglich dessen privilegierte Geschöpfe, Symptome einer strukturellen Pathologie. Einmal vom System emporgehoben, werden diese Emporkömmlinge zu dessen eifrigsten Wächtern. Sie verteidigen die Mechanismen, die sie groß gemacht haben, mit der Vehemenz von Süchtigen, die ihre Droge beschützen. Paradoxerweise verwandelt das System sie in Idole: Die von ihm Begünstigten werden nicht als Nutznießer einer toxischen Ordnung erkannt, sondern als strahlende Vorbilder verehrt, denen die Verlierer des Systems nacheifern. So entsteht die perfekte Illusion: Was als systemische Selbsterhaltung funktioniert, wird als bewusster Gestaltungswille verklärt. Doch auch ihr Schutzreflex ist nur eine weitere Reaktion im biochemischen Kreislauf des Kapitals.
In dieser Systematik werden ökologische und soziale Verwerfungen nicht als Fehler, sondern als notwendige Externalitäten betrachtet. Die Fixierung auf das Bruttoinlandsprodukt als zentralen Fortschrittsindikator verschleiert jedoch eine fundamentale Perversion: Die Produktion für den Gebrauch wird von der Produktion für den Gewinn kannibalisiert. Die Möglichkeit, ohne eigene Mühen einen Überschuss zu erzielen, verstellt den Blick auf das, was wirklich zählt: menschliches Wohlbefinden, soziale Gerechtigkeit und die Integrität der Ökosysteme, von denen wir abhängig sind. So wird die Marktwirtschaft zur Geisel ihres eigenen Subsystems – ein ökonomischer Ouroboros, der sich selbst verschlingt.
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