Philosophie auf dem Niveau Hegels – Buchrezension von Daniel Bigalke
In den neun Kapiteln des Buches werden folgende philosophische Disziplinen vorgestellt: 1. Erkenntnistheorie, 2. Anthropologie, 3. Sozialphilosophie, 4. Handlungstheorie, 5. Sprachphilosophie, 6. Kunstphilosophie, 7. philosophische Theologie, 8. Ontologie, 9. Ethik. Das Besondere dabei ist: Diese Disziplinen werden nicht nebeneinander gestellt wie selbständige „Wissensgebiete“, sondern aus einem Grundgedanken entwickelt, der sowohl methodologisch wie zugleich inhaltlich ist: Es ist die menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion, welche allein fähig ist, als Denkform sich zugleich als ihren eigenen Inhalt zu erfassen. Das ist der Anspruch und Sinn von „Reflexionstheorie“. Dadurch reiht sich Johannes Heinrichs mit einer neuen Ausdrücklichkeit in die Linie von Denkern wie Descartes, Kant, Fichte, Hegel oder im 20. Jahrhundert Gotthard Günther.
Während Günther sich jedoch mit umstrittenen Erfolg um die Formalisierung der dialektischen, mehrwertigen Logik der Selbstbezüglichkeit mühte, entfaltete Heinrichs diese Logik in nicht formeller, doch inhaltlich reicher Weise in den oben genannten Disziplinen. In der erkenntnistheoretischen Grundlegung wird der Zirkel-Einwand gegen die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins (u. a. von Husserl oder Sartre) umgekehrt: Sie selbst begehen den Zirkel, die gelebte Reflexion nach dem Muster der theoretisch-objektivierenden Reflexion folgenreich falsch zu deuten. Der Untertitel des Werkes „Wie das Leben denken lernt: gelebte und ausdrückliche Reflexion“ spricht von dieser Rückgewinnung und Weiterführung des reflexionstheoretischen Ansatzes.
Dass diese Methode – im Unterschied zur Sprachanalyse angelsächsischer Prägung – nicht in inhaltsarme Sichtung der Alltagssprache ausläuft, zeigen die nachfolgenden Kapitel, nicht zuletzt die Kurzfassung der reflexionstheoretischen Sprachtheorie in Kapitel 4 „Ein Kurs in Wundern der Sprache“. Auch die seit Heidegger, dem Wiener Kreis und Wittgenstein (also bei Raunern wie Rationalisten gleichermaßen) anhaltende, modische Rede von „metaphysisch“ im abwertenden Sinne verliert angesichts dieser vertieften Weiterführung der großen europäischen Linie, namentlich des deutschen Idealismus, allen angebbaren Gehalt.
Das Schlusskapitel zur Ethik ist ein Novum auch in Heinrichs‚ Werk: nicht die eine Ethik wird dem Leser als die einzig wahre demonstriert. Vielmehr wird eine reflexionstheoretische Systematik der ethischen Wertpositionen entwickelt und an den geschichtlichen Positionen demonstriert. Der Leser soll instand gesetzt werden, anhand dieser Wertentscheidungen sein eigenes, „natürliches“, d. h. implizit gelebtes Ethos zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Diese Auffassung von Ethik entspricht der in der Handlungstheorie (Kap. 4) entwickelten Lehre von vorbewussten Vorentscheidungen. Einer direkt präskriptiven Individualethik gegenüber äußert Heinrichs Vorbehalte, nicht zuletzt weil dadurch die Dringlichkeit einer strukturellen Sozialethik oder Institutionenethik verdunkelt wird.
Es dürfte in der Tat wenig Vergleichbares in der (deutschen) Gegenwartsphilosophie geben. Der Titel „Integrale Philosophie“ wird von dem Populärphilosophen Ken Wilber der wissenschaftlichen Philosophie rückgewonnen, die durchaus wieder spirituell sein kann, ohne falsche Arbeitsteilung mit der konfessionellen Theologie, die als solche an der Universität nichts zu suchen hat (Kap. 7). Wilber wird in einem kurzen Anhang argumentativ bedacht. In der letzten Anmerkung weist Heinrichs ihn mit Hegels Worten auf seinen Platz: „Der gemeine Weg macht sich im Hausrocke; aber im hohenpriesterlichen Gewand schreitet das Hochgefühl des Ewigen, Heiligen, Unendlichen daher (…) Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen.“ Wir finden in Heinrichs’ Werk tatsächlich wieder, was Wilber bieten wollte: Philosophie auf dem Niveau Hegels.
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