Über Michael Ende – Leonie Sontheimer
Es mag Schriftsteller geben, die schreiben, um der Welt zu entfliehen. Andere lassen sich von der Verheißung von Reichtum und Ruhm leiten. Nicht so der Verfasser von Momo, der Unendlichen Geschichte und Jim Knopf: Viele der fantasievollen Geschichten und Figuren Michael Endes, darunter auch solche, die die allerjüngste Leserschaft ansprechen, haben einen Bezug zu gesellschaftlichen Fragen, oft auch historischen Zusammenhängen, die auch in entsprechender Fachliteratur wiederzufinden wären. Die Form der Erzählung jedoch ermöglicht dem Leser ein emotionales Erleben und tieferes Verständnis menschlich verursachter Krisen.
Für Floriana, Hanni, Masayo, Oliver und Pius, die an einem Dokumentarfilm über die Hintergründe von Momo arbeiten, ist Michael Ende ein wichtiger Vordenker, besonders durch seine Fähigkeit, wirtschaftliche und wissenschaftliche Themen auf poetischer Ebene zu vermitteln. Die Geschichte über Momo und die Grauen Herren stellt den roten Faden für den Film dar, in ihr fließen viele der Gedanken zusammen, welche das Filmteam an die Menschen herantragen möchte.
„Michael Endes Erzählweise ergreift das Herz, die Theorie geht in den Kopf. So wird Ende von jedem verstanden, egal wie alt oder wie klug er ist“, sagt Masayo, für die Endes Bücher ein Teil ihrer Kindheit waren. Auch Oliver hat als Kind Jim Knopf, Momo und die Unendliche Geschichte gelesen. Aber die Bedeutung, die Ende jetzt für ihn hat, ist erst vor vier Jahren entstanden, als er gemerkt hat, dass in vielen seiner Geschichten soziale und höchst politische Themen versteckt sind.
Momo beinhaltet ein verwobenes Gefüge brisanter Themen. Je nachdem, wie man es dreht und wendet, dringen unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund, die alle tief miteinander verbunden sind: die Misere des heutigen Geldsystems,
die zerstörerischen Symptome des Wachstumszwangs oder die verkümmernde Fähigkeit zuzuhören. Auch die zunehmende Umweltverschmutzung und Ausbeutung der Natur, die wir heute beobachten können, hat Ende bereits verarbeitet. In einer Videobotschaft für ein umweltpolitisches Symposium in Japan 1993 sagte er, der dritte Weltkrieg hätte längst begonnen: „Wir führen einen Vernichtungskrieg gegen unsere eigenen Kinder, Enkel und Urenkel. Deren Welt zerstören wir jetzt.“
Michael Ende, der 1929 in Garmisch-Partenkirchen zur Welt kam, hat das Ende des zweiten Weltkrieges bewusst miterlebt. Als Jugendlicher wurde er Zeuge von Bombenangriffen auf Hamburg und München, und schrieb seine ersten Gedichte. Während sich die Wogen des Krieges langsam glätteten, besuchte Michael Ende erst eine Waldorfschule und später die Otto Falckenberg Schauspielschule und befasste sich mit anthroposophischen, magischen und anderen Weltbildern. Später, als erwachsener Schriftsteller und öffentlich wahrgenommene Person, beschäftigten Ende die Grenzen, die wir unserem gesellschaftlichen Denken setzen.
Wie eine große schwarze Mauer beschreibt er diese Grenzen in einem Gespräch mit dem SPD-Politiker Erhard Eppler und der Schauspielerin Hanne Tächl im Jahr 1982. Eine Mauer, vor der vor allem die junge Generation stünde und sich so eigentümlich hoffnungslos fühle. Doch Michael Ende fürchtete sich nicht vor der Frage „Was wollen wir eigentlich?“. Er stellt sie uns in allen seinen Geschichten und zeigt, wie wir die Mauern einreißen können. Endes Gabe, Gretchenfragen zu stellen, machte ihn zu einem gefragten Gesprächspartner und so hatte Ende zahlreiche Auftritte, bei denen es nicht primär um seine Literatur ging, sondern um wichtige Fragen der Kultur, Kunst und Gesellschaft. Nicht immer war die Resonanz positiv. So wurde er etwa auf eine Tagung zum Thema „Die Rationalisierungsfalle“ in die Schweiz eingeladen, schließlich jedoch von den anwesenden Top-Managern aggressiv beschimpft. Er hatte dazu angeregt „positive Utopien“ zu entwickeln statt nur noch in Sachzwängen zu denken. Ende erschien es notwendig für das Überleben der Menschen, ein positives Bild von der Welt zu entwerfen, in der man leben möchte. Frei von jedem „Das geht nicht!“. Dann könne man sich daran setzen, dieses Wunschbild zu verwirklichen. Er wollte mit den Managern über Möglichkeiten sprechen, wie in Zukunft eine Industrie aussehen könnte, die auf andere Grundlagen gestellt wäre als auf Konkurrenz und Wachstumszwang. Ende ging dabei nicht davon aus, dass es die Einsichtslosigkeit oder der rücksichtslose Egoismus der Wirtschaftsleute sei, was die Sache so kompliziert mache. Es sei das System selbst, welches er als „wildgewordenes Karussell“ bezeichnet, das scheinbar niemand mehr anhalten kann.
In Momo findet sich das von Ende kritisierte System wieder. In einem Brief an den deutschen Ökonom Werner Onken bestätigt er, dass im Hintergrund von Momo die „Idee des alternden Geldes“ steht und äußert seine Ansicht, dass „unsere Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich, oder sogar vorher, die Geldfrage gelöst wird“.
In Japan ist Ende
als Philosoph bekannt
Michael Endes Werke wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt und weltweit gelesen. Eine ganz besondere Verbindung baute Ende nach Japan auf, woher seine zweite Frau stammt und wo er noch heute von Journalisten und Politikern zitiert wird. „Endes Bücher wurden in Japan von einem Verlag veröffentlicht, der vorwiegend Erwachsenenliteratur herausgibt,“ erzählt Hanni. In ihrer Recherche für den Langfilm erfahren die Dokumentarfilmer stets mehr über enge Bande zwischen Ende, seinen Ideen und Japan. „Während die europäische Vermarktungsstrategie den Märchenonkel erfand, wird Ende in Japan bis heute als Denker und Philosoph wahrgenommen.“ Diese ernsthafte Wahrnehmung aus dem Blickwinkel der fernen Kultur war es vielleicht, die Michael Ende veranlasste, über einen „Club of Tokyo“ nachzudenken, der sich analog zum Club of Rome mit nachhaltigen Währungskonstruktionsfragen auseinandersetzen sollte.
Das Interesse der japanischen Öffentlichkeit ging soweit, dass der staatliche Sender NHK aufgrund des Buches Momo und Endes Beschäftigung mit dem Thema „Zeit“ eine Sendung über Einsteins Relativitätstheorie produzierte, durch die Michael Ende führte. Inspiriert durch die intensiven Gespräche während dieser Dreharbeiten plante der Regisseur Atsunori Kawamura einen Dokumentarfilm über Geldsysteme, der durch den unerwarteten Tod Michael Endes 1995 erst vier Jahre später auf Basis von Audioaufzeichnungen verwirklicht werden konnte.
Floriana kann nachvollziehen, dass Endes Geschichten die Leser beeindrucken: „Endes Texte erzeugen einen Sog, der einen mitreißt und alles vorstellbar macht.“ Diesen Sog möchten Floriana und die anderen mit ihren Bildern und Geschichten auch erzeugen und so ihre Kritik des Geldsystems direkt an die Herzen adressieren. „Auch den ganzheitlichen Blick auf die Dinge können wir uns bei Michael Ende abgucken,” erklärt Hanni. „Dieser Blick ermöglicht uns, Zusammenhänge zu erfassen.“ Michael Endes umfassendes Verständnis für die komplizierten Wechselbeziehungen zwischen dem Geld, der Zeit, unserem sozialen Miteinander und den krankhaften Symptomen des Wirtschaftswachstums ist außergewöhnlich. In dem entstehenden Dokumentarfilm soll dieses Verständnis mit weiteren Bildern gefüttert und von unterschiedlichen Stimmen gestärkt werden.
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