Subsistenz, Freiwirtschaft und das Ende des Wachstums – Editorial
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Subsistenz, Freiwirtschaft und das Ende des Wachstums – ein Dreiklang der Nachhaltigkeit
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Die Begriffe Subsistenz und Suffizienz tauchen seit einigen Jahren auf, wenn über wirtschaftliches Wachstum diskutiert wird. In einer Wirtschaft „jenseits des Wachstums“ (Beyond Growth) muss es gelingen, die Versorgung der menschlichen Grundbedürfnisse zu sichern. Die Befreiung vom Wachstumszwang ist auch eine unabdingbare Voraussetzung, um die ehrgeizigen ökologischen Ziele zu erreichen. Der Anteil der Subsistenz spielt dabei eine wichtige Rolle.
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„Subsistenz ist die Summe all dessen, was der Mensch notwendig zum Leben braucht: Essen, Schutz gegen Kälte und Hitze, Fürsorge und Geselligkeit. Wenn die Subsistenz gesichert ist, kann das Leben weitergehen.“
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Wer heute überleben will, braucht Geld. Das Bestreben, den Mangel an Geld durch den Anbau von Obst und Gemüse, das Nähen von Kleidung oder den Bau eines eigenen Hauses auszugleichen, wird nicht als wirtschaftliche Tätigkeit, sondern als Freizeitbeschäftigung eingestuft. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft scheint Selbstversorgung schlicht unnötig. Auf der anderen Seite ist es eine Tatsache, dass unzählige Menschen nicht annähernd genug Geld haben, um bedarfsgerecht am Wirtschaftsleben teilnehmen zu können. Subsistenz wird im 21. Jahrhundert für Viele zur Notwendigkeit, weil die kapitalistische Marktwirtschaft bis heute nicht leisten kann, was sie immer zu können vorgibt: die Versorgung der Menschen mit dem Lebensnotwendigen. Das gilt für die sogenannten westlichen Staaten, aber erst recht für die von extremer Armut betroffenen Regionen der Erde, die zudem hinnehmen müssen, dass die wertvollen Ressourcen ihrer Heimat aus Kapitalinteresse geplündert werden.
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Zwei-Klassen-Gesellschaft: Gewinner und Verlierer
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Zwischen den Menschen und der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse schiebt sich das Geld als unabdingbare Voraussetzung für die Teilhabe am Leben. Es entsteht eine Parallelgesellschaft der Geldlosen, zu denen auch diejenigen gezählt werden müssen, die gezwungen sind, alles, was sie einnehmen, sofort wieder auszugeben. Menschen, die auf staatliche Sozialleistungen wie das Bürgergeld angewiesen sind, Rentner mit Bezügen unterhalb der Armutsgrenze und Millionen Geringverdiener leben von der Hand in den Mund. Sie haben kein finanzielles Polster und keine Perspektive, aus eigener Kraft etwas für Notfälle oder eine auskömmliche Altersvorsorge anzusparen. Schlimmer noch: Sie haben in der Regel auch keine wirkliche Wahl, wenn es um den Einkauf des Lebensnotwendigen geht. Sie müssen sich aus dem Angebot bedienen, was am billigsten ist. Insofern ist es geradezu ein Hohn, wenn die Politik von ihnen erwartet, dass sie ihren Konsum nachhaltiger gestalten, denn das bedeutet in der Regel, dass sie für das Notwendige mehr bezahlen müssen. Sie bleiben auf die Gunst des Sozialstaates in einer Weise angewiesen, die viele als entwürdigend empfinden, nicht zuletzt, weil ihr Einkommensniveau die Existenz am Rande der Gesellschaft verfestigt. Die Extreme der Vermögensverteilung treten immer deutlicher zutage. Neben der breiten Schicht der Armen gibt es die Reichen und Superreichen. Sie leben im gleichen Land, in der gleichen Stadt, oft Tür an Tür. Ein funktionierendes Sozialsystem braucht keine völlige Abwesenheit von Armut. Was aber nicht zugelassen werden sollte, ist die Würdelosigkeit der Armut, die sich unter anderem darin ausdrückt, dass den Betroffenen signalisiert wird, sie seien an ihrer Situation selbst schuld. Wer dauerhaft seiner Würde beraubt wird, verliert jede Hoffnung und vor allem das Vertrauen in die Perspektive eines fürsorglichen Staates. Dies führt sie in eine von der übrigen Gesellschaft isolierte Existenz. In der vermeintlichen Geborgenheit unter anderen Abgehängten finden sie den letzten Hort der Zugehörigkeit und damit eine „partielle Subsistenz“. Die Welt des Geldbesitzes und des materiellen Reichtums wird von ihnen als unerreichbar akzeptiert. Sie geben sich nicht mehr der Illusion hin, dass es irgendeine Sicherheit für ihre Zukunft und die ihrer Familien gibt. Aber genau das macht eine intakte Gesellschaft aus: die glaubwürdige Vermittlung von verlässlicher Sicherheit und Geborgenheit. Auf diesem Vertrauen bauen Staaten auf. Stattdessen hat sich unter nahezu vollständiger Anonymität der Reichen und Superreichen die kapitalistische Version einer Despotie herausgebildet. Dabei erzeugen Kapitalbesitzer mit ihrem Einfluss auf die Knappheit von Geld, Grund und Boden, Patenten und immateriellen Rechten ein komplexes Gefüge von Abhängigkeiten. Neben der zunehmend zu beobachtenden Radikalisierung bleibt den Unzufriedenen die „Waffe“ der demokratischen Wahlen, um ihrer Verzweiflung durch die Stimmabgabe für Extreme, wie zum Beispiel die nationalistischen Rechten, Ausdruck zu verleihen. Oft nur, weil die so Gewählten vorgeben, das gleiche Feindbild zu haben. Rechtspopulistische Politik verspricht kein Ende der Armut. Sie hat dafür keine Konzepte. Man schürt Angst, wirft den Regierenden Versagen vor und tut so, als ob man gegen die etablierte Allianz aus Reichtum und Macht kämpfen würde. Dies wird jedoch von Mitmenschen und den politisch Verantwortlichen der gemäßigten Parteien nicht als Hilferuf, sondern als zu bekämpfendes Symptom wahrgenommen, von dem die Zersetzung von Staat und Gesellschaft auszugehen droht.
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Die Renaissance der Subsistenz ist eine Antwort auf Systemfehler und die sich daraus ergebenden Zwänge der modernen Ökonomie. Die Flucht vor einer Situation, zu der es keine Alternativen zu geben scheint. Aber ist das wirklich so? Womöglich lässt sich der Wert einer Subsistenzstrategie auf besondere Weise mit einer reformierten Geldwirtschaft verbinden? Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der Geld allen zur Verfügung steht, die einen Bedarf mit Hilfe Dritter decken müssen oder wollen. Geld, dessen Existenz nur an die Verfügbarkeit einer Ware oder Dienstleistung gebunden ist und nicht daran, ob Geldbesitzer bereit sind, es freizugeben.
Angenommen, es stehen zwei Personen vor einer Bäckerei, von denen die eine hungrig, aber ohne Geld ist. Die andere hat Geld, ist aber schon versorgt. Lassen wir in dieser Situation die Menschlichkeit einmal beiseite und bleiben bei der nüchternen Überlegung, dass das weitere Handeln rein ökonomisch motiviert wäre. Nehmen wir außerdem an, das Geldsystem sei so strukturiert, dass nicht verwendetes Geld im Laufe der Zeit an Nutzen verliert, so wie frisches Brot, das in der Bäckerei auf der Theke liegt und langsam ungenießbar wird. Es wäre dann geradezu töricht von einem Geldbesitzer, sein Geld nicht sofort dem Hungernden zu überlassen, wenn damit das Versprechen verbunden ist, später „frisches“ Geld zurückzubekommen, mit dem dann eigene Bedürfnisse befriedigt werden können. Geld ohne Bedarf ist wie ein Gewürz ohne ein damit zu verfeinerndes Gericht: nutzlos. Wenn es teurer wäre, Geld zu behalten, als es auszugeben, käme es unweigerlich zu einer Verhaltensänderung der Menschen, die zu völlig anderen Wirtschaftsabläufen führen würde, als wir sie heute kennen.
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Knappheit ist im Kapitalismus unverzichtbar
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Es gibt eine zwar schrumpfende, aber immer noch relativ große Mittelschicht (in Deutschland etwa 30 bis 40 Prozent der Gesellschaft), die einen Überschuss erwirtschaftet. Sie nehmen etwas mehr ein als sie ausgeben und fühlen sich dadurch in der Lage, am „großen Spiel“ der Selbstvermehrung eines wachsenden Kapitalstocks teilzunehmen. Deshalb empfinden sie dieses System als schützens- und erhaltenswert und machen ihren durchaus vorhandenen Einfluss auf die Politik nicht durch Forderungen nach einem Systemwechsel geltend. Die Angst vor dem Abstieg in die Klasse derer, die von der Hand in den Mund leben, treibt sie an, kontinuierlich Überschüsse zu erwirtschaften. Doch auch diese sogenannte Mittelschicht gehört zu den Verlierern im kapitalistischen Casino. Nur wissen das die wenigsten. Die monetären Umverteilungsströme, die aus der Wirtschaftsleistung gespeist werden müssen, verbergen sich in den Preisen aller Waren, Dienstleistungen und zu zahlenden Mieten. Wer nur sein eigenes kleines Vermögen wachsen sieht, aber übersieht, wie viel gleichzeitig von dem, was er selbst erarbeitet hat, bei jedem einzelnen Zahlungsvorgang abgezogen und von den wirklich großen Vermögen aufgesogen wird, der wähnt sich als Gewinner, obwohl er in Wirklichkeit ein Verlierer ist.
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Knappheit ist die Quelle der Rendite. Der Kapitalismus braucht diese Knappheit an Geld und Kapital, um zu überleben. Die Armen brauchen die Überwindung der Knappheit des Geldes, um zu überleben. So seltsam es klingen mag, aber die Knappheit des Geldes im System kann beendet werden, indem man es ständig automatisch schmelzen und neu entstehen lässt. Ein kontrollierter Prozess des Werdens und Vergehens. Wenn die Macht über die Knappheit nicht bei den Geldbesitzern liegt, sondern auf die Allgemeinheit übergeht, die eine neue Ordnung für die Konstitution des Geldsystems erlässt, kann Unvorstellbares erreicht werden. Die menschenunwürdige Massenarmut könnte überwunden werden und es könnte gelingen, die bereits entstandenen Parallelgesellschaften langsam wieder aufzulösen und die dorthin abgedrifteten Menschen in eine solidarische und gerechte Gemeinschaftsform zu integrieren. Wenn es gelänge, der wirtschaftspolitischen Gegenwart einen Sinn zu geben, der von Vertrauen und Stabilität geprägt ist, dann könnten Zukunftsängste abgebaut werden. Die kapitalistische Marktwirtschaft hat uns Subsistenzfähigkeiten abtrainiert und ihre Regeln auferlegt. Diese besagen, dass die Versorgung der Menschen nur möglich ist, wenn sich das Kapital rentiert.
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Es muss gelingen, die Marktwirtschaft vom Kapitalismus zu befreien, um das Wertvolle, Bereichernde und Schöne der Subsistenz auf andere Weise neu zu entdecken. Gelingt das nicht, bleibt vieles, auch das Ziel einer Wirtschaft ohne Wachstum, ein zermürbender Kampf gegen die Renditezwänge einer falschen Wirtschaftsordnung. Das macht Existenzangst zum ständigen Begleiter. Mich überzeugt der Kerngedanke der Subsistenz, weil ich den Durchbruch ihres wahren Wertes in Ergänzung mit einem freiwirtschaftlichen Geldsystem und einer gerechten Bodenordnung als stimmige Symbiose sehe. Subsistenz und eine vom Wachstum befreite Ökonomie sind möglich, ohne ein Leben in Entbehrung fürchten zu müssen. Jenseits des heutigen zerstörerischen Konsums entstünde ein freieres Leben mit einem immateriellen Reichtum, der nur in Gemeinschaften entstehen kann.
Herzlich grüßt Ihr Andreas Bangemann
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