Problemfall Deutschland
Buchrezension
– - -
„In den letzten Jahren hat sich eine Flut von Äußerungen über uns ergossen, die alle einen Tenor haben: Globalisierung und Digitalisierung überfordern die Masse der Menschen. Sie verunsichern die Bürger und Wähler, die sich daher vermehrt dem ‚Populismus‘ verschreiben“, stellen Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt im ersten Kapitel ihres Buchs „Gescheiterte Globalisierung“ fest. Das liest sich dann so: „Richard David Precht, Philosoph, Weltversteher, Autor und Entertainer, wiederum hat die Digitalisierung entdeckt, die den Menschen die Arbeit nimmt. Er wird nicht müde, davor zu warnen, dass uns ungefähr übermorgen die Arbeit ausgehen wird.“ Die Autoren zitieren Richard Freeman von der Harvard University: „Sobald Roboter und Computer etwas billiger erledigen können, nehmen sie den Menschen die Jobs ab – außer, diese seien bereit, weniger Lohn zu akzeptieren.“ Die Antwort von Flassbeck und Steinhardt: „Das ist falsch“ – ein Wort, das in ihrem Buch mehr als einmal auftaucht.
Ähnlich verhält es sich mit der Globalisierung. Der Freihandel sei gut, so die Grundvoraussetzung, die scheinbar keiner Begründung bedarf. Gleichwohl scheint er fast zwangsläufig harte Einschnitte nach sich zu ziehen: „Arbeit müsse billiger und Kapital teurer werden“, resümieren die Autoren das Mantra der Neoklassiker. „Inflexible Löhne in den Industrieländern würden unweigerlich Arbeitslosigkeit nach sich ziehen, Verteilungskämpfe in den reichen alten Ländern würden das Kapital außer Landes treiben, weil es immer die Alternative gebe, sein Kapital in einem aufstrebenden Staat anzulegen.“ Sie räumen ein: „Vermutlich hat keine Theorie die internationale Diskussion um die Folgen der Globalisierung so stark dominiert wie diese einfache, ja primitive Ableitung, die sich direkt aus der neoklassischen ‚Theorie‘ eines ‚Arbeitsmarktes‘ ergab.“ Doch diese Theorie, die sie nur in Anführungszeichen als solche bezeichnen wollen, sei nicht zu halten.
„Es hätte nicht der Wahl eines Präsidenten Trump bedurft, um zu sehen, dass der ökonomische und politische Liberalismus, der die gesamte Welt in den vergangenen vierzig Jahren mehr als jede andere Idee geprägt hat, kläglich gescheitert ist“, stellen Flassbeck und Steinhardt in der Einleitung fest: „Die Unzufriedenheit vieler Menschen, die in der Wahl eines offen reaktionären Präsidenten zum Ausdruck kam, belegt nicht nur die politische Unfähigkeit des Liberalismus, die nötige Balance zwischen Freiheit und Gleichheit zu wahren, sondern viel mehr noch seine Unfähigkeit, die sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge in komplexen modernen Gesellschaften in ihrer Interaktion angemessen zu deuten und darauf basierend tragfähige politische Konzepte zu entwickeln.“
Die USA erheben Schutzzölle und die Europäische Union steht mit Italien vor der nächsten, noch größeren Zerreißprobe: Zeichen eines Scheiterns, das Flassbeck schon vor zwei Jahren vorausgesagt hat. Er war zehn Jahre lang Chefökonom der UN Conference on Trade and Development (Unctad). Steinhardt hat sieben Jahre in führender Position für die Deutsche Bank gearbeitet. Die Autoren wissen, wovon sie reden, haben die Zahlenwerke im Kopf und kennen viele Akteure weit reichender wirtschaftspolitischer Entscheidungen. Sie treten nicht für ein anderes Wirtschaftssystem ein. Aber sie können empirisch belegen und theoretisch begründen, dass und warum die neoliberale oder neoklassische Theorie nicht funktioniert.
Damit geraten sie in Kontrast zu den herrschenden ökonomischen Doktrinen. Man muss es in diesen Worten sagen, denn es handelt sich um ein Herrschaftswissen, das sich von faktischen Befunden oder neuen Erkenntnissen in keiner Weise beeindrucken lässt. „Die Marktwirtschaft ist für liberale Wirtschaftstheoretiker ganz offensichtlich ein normatives Ideal, dem die Realität anzugleichen ist.“ Steinhardt muss es wissen. Er hat promoviert zum Thema „Was ist eigentlich eine Marktwirtschaft?“ Er hat sich damit im bestehenden Wirtschaftssystem wenig Freunde gemacht. Ein Netzwerk von Kaderschmieden kontrolliert Ausbildungswege und Karrierechancen, sodass abweichende Meinungen niemals an entscheidende Positionen gelangen. Auch Flassbeck hat dies hautnah erfahren. Er war in der ersten rot-grünen Bundesregierung Staatssekretär unter Oskar Lafontaine, bis dieser nach einem halben Jahr zurückgetreten ist.
Sechzig bis siebzig Prozent der Exporte Chinas, so die Autoren, stammen in Wirklichkeit aus der nach China ausgelagerten Produktion westlicher Unternehmen. Zwingt diese Verlagerung aber in den hoch entwickelten Ländern zum Lohnverzicht? Nein, sagen Flassbeck und Steinhardt: Die Löhne in China sind nur deshalb so niedrig, weil sich anders der viel effizienteren Hochtechnologie der westlichen Länder nicht Paroli bieten lässt. Mit anderen Worten: ein Arbeiter in Deutschland verdient zwar viel mehr, aber entscheidend sind nicht die Löhne allein, sondern die Lohnstückkosten. Die aber sind, so Flassbeck und Steinhardt „der Spiegel der Produktivität, die wiederum auf dem erwirtschafteten Kapitalstock eines Landes beruht.“ Die Behauptung, die hohen Löhne würden die Exportchancen der deutschen Wirtschaft schwächen, trifft angesichts der hohen Exportraten offenkundig nicht zu. Ebenso absurd ist es, einen befürchteten Arbeitsplatzverlust aufgrund der Digitalisierung durch einen Lohnverzicht kompensieren zu wollen, denn die Digitalisierung erhöht die Produktivität, steigert also das Einkommen einer Gesellschaft.
Das Gegenteil wäre richtig: Insbesondere Deutschland betreibt seit der Regierung Schröder eine Niedriglohnpolitik, die für einen Großteil der gegenwärtigen Krisen verantwortlich ist. Sie führt zu einem hohen Handelsbilanzüberschuss, der für Deutschland bedeutet, dass sich immer mehr Kapital ansammelt, das aber wiederum nur in den Export investiert werden kann, da wegen der niedrigen Löhne die Binnennachfrage fehlt. Die anderen EU-Länder weisen dagegen entsprechende Handelsbilanzdefizite auf, denn es können nicht alle zugleich mehr verkaufen als kaufen. Die dank der hohen Produktivität und der niedrigen Löhne konkurrenzlosen deutschen Produkte fahren insbesondere die südeuropäischen Länder der EU an die Wand, da die Konstruktion des Euro zugleich verhindert, dass diese ihre Währung abwerten können.
Das Buch richtet sich nicht unbedingt an den Laien, die ökonomische Beweisführung erfordert Grundkenntnisse in den Wirtschaftswissenschaften oder zumindest den Willen, sich durchzubeißen, wenn auch Kurvendiagramme das Verständnis erleichtern. Flassbeck und Steinhardt lassen einige Grundannahmen der neoliberalen Lehre überhaupt nicht gelten: Der Arbeitsmarkt ist kein Markt, sagen sie, weil es Machtverhältnisse gibt, die das viel beschworene freie Spiel der Kräfte verhindern. Es entsteht eine funktionslose globale Ungleichheit: auf der einen Seite Armut, auf der anderen enorme Gewinne, und die Politik treibt diese Entwicklung nur weiter voran: „Der Staat halbierte in den vergangenen zwanzig Jahren in Deutschland die Steuern für die Unternehmen, […] gleichzeitig liefen die Unternehmensgewinne gut, weil der Exportkanal offenstand. Es entstand ein gewaltiger Billiglohnsektor, die soziale Unterstützung wurde drastisch reduziert.“ Der Liberalismus versagt auch global: Die Finanzmärkte produzieren falsche Preise, sagen die Autoren, wie sich unter anderem an der Finanzspekulation und Rohstoffpreisen zeigt.
Was also wäre zu tun? Als erstes müssten die Staaten aufhören zu sparen, denn die falsche Gleichsetzung von Staatshaushalt, Privathaushalten und Unternehmenshaushalten führt zum einen dazu, dass alle nur noch sparen wollen, was aber in Wirklichkeit nicht geht, da Geld nur angelegt werden kann, wenn auch jemand Kredite aufnimmt, also sich verschuldet. Zum anderen zeigt das Versagen der neoklassischen Modelle, dass die Wirtschaft eben nicht am besten funktioniert, wenn sie keinerlei Einschränkungen unterworfen ist, sondern im Gegenteil einer staatlichen Regulierung bedarf. Jegliches Wirtschaftgeschehen braucht Regeln, die nur die – möglichst demokratisch legitimierten – Staaten setzten können.
- – - mehr online – - -
Aktuelle Kommentare