Vision oder Privatvergnügen? – Pat Christ
Leben ohne Geld und möglichst ohne Bedürfnisse wird zum neuen Nischenlifestyle.
Er wollte nicht länger um das Goldene
Kalb tanzen. Darum entschied sich
Raphael Fellmer vor drei Jahren, in
„Geldstreik“ zu treten. Seither macht
er damit Furore. Wobei er keineswegs
der einzige ist, der sich (vorübergehende?)
„Geldlosigkeit“ zum Ideal
erkoren hat. Heidemarie Schwermer
entschied sich bereits 1996, ohne
Geld zu leben. Mark Boyle gab immerhin
ein Jahr lang den Konsumverweigerer.
Auch die Vagabundenbloggerin
Michelle stieg für ein Jahr aus und lebte
ohne Heller und Pfennig.
Einmal ausscheren – wer wünschte
sich das nicht. Dazu hat auch
jeder das Recht. Interessant sind
die Missionen, die hinter dem jeweiligen
Ausstieg stecken. So hat Raphael
Fellmer mit seiner Aktion die „Lage
der Welt“ und die ganze Menschheit im
Blick. Darunter macht er es nicht. „Mein
Geldstreik ist sehr breit angelegt“,
meint er im Gespräch mit der HUMANEN
WIRTSCHAFT. Er ist gegen den Kapitalismus.
Gegen die Verschwendung.
Gegen die Ausbeutung von Tieren. Gegen
die Umweltverschmutzung. Als ein
„Ausrufe- und ein Fragezeichen“, sagt
er uns, sehe er seinen Streik.
Fellmer trampte längere Zeit und kam
dadurch auf den Geschmack der Freiheit
und zu seiner Lebensphilosophie.
Man lerne die Dinge mehr zu schätzen,
wenn man sie nicht einfach kaufen kann,
meint er. „Wenn zum Beispiel beim Trampen
endlich ein Auto hält, freut man sich
viel mehr, als wenn man einfach in den
nächsten Bus steigt und 2,50 Euro zahlt“,
so der 30-Jährige. Das leuchtet ein.
Und es erinnert an „On The Road“, die
Bibel der Beat-Generation. Auch hier
nehmen sich junge Menschen eine
Freiheit, die ihnen die Gesellschaft
freiwillig nicht gibt. Aber dieses Buch
kennt Fellmer nicht. „Ich bin nicht sehr
belesen“, gibt er zu. Und das ist spürbar.
Überhaupt hat es Fellmer nicht mit
Theorien und Philosophien.
Einfach gestricktes Weltbild
Sein einfach gestricktes Weltbild weist
ihn denn auch nicht gerade als Feingeist
aus. Da gibt es die wenig anspruchsvollen
Kategorien „Ja“ beziehungsweise
„gut“ und „Nein“ beziehungsweise
„schlecht“. Raphael Fellmer ist gegen
alles, was nicht gut ist: Den millionenfachen
Hunger in der Welt, das „Killen“
von Tieren, die Zerstörung der Natur.
Und er ist für alles, was gut ist. Die Liebe.
Die Menschheit. Und dergleichen.
Dass er auf alles eine Antwort parat hat,
wirkt ein wenig oberschlau. Oberfriedlich
und oberökologisch ist er sowieso.
Nur mit Details, stets die Krux an jeder
Problematik, hält er sich nicht lange
auf. Irgendwie scheint es für ihn nichts
tiefer zu verstehen zu geben… Das ist
entwaffnend. Dafür mögen ihn viele. Ist
doch die Sehnsucht nach einfachen Erklärungen
und einfachen Lösungen in
unserer hochkomplexen Welt groß. Und
wer möchte Kämpfer für das Gute nicht
gern unterstützen?
Seine Habe musste er vor seinem Freiheitssprung
übrigens nicht in einem Depot
unterbringen. Fellmer hat ein Dach
überm Kopf. Bis Ende vergangenen
Jahres lebte er mit seiner Frau und der
zweijährigen Tochter Alma umsonst im
Friedenshaus von Berlin. Zu Jahresbeginn
zog er um. Eine Familie nahm die
drei auf: „Wir haben dort ein Zimmer in
einer Fünf-Zimmer-Wohnung.“ Zu eng?
Aber Fellmer ist ja ohnehin dauernd
unterwegs. Vor allem seit sein Buch erschienen
ist. Daran verdient er im Übrigen
nicht, betont er uns gegenüber. Als E‑Book sind die Seiten kostenlos herunterzuladen.
Von der Auflage wird ein
Drittel verschenkt. Der Rest fließt zur
Kostendeckung an den Verlag.
Den Ausschlag für die Entscheidung,
geldlos zu leben, gab eine Tramptour
mit Freunden nach Mexiko. „Er hatte
kein Geld, kam aber trotzdem immer
weiter“, schreibt Birgit Baumann über
ihn im „Standard“. „Über den Atlantik
nahmen ihn Italiener mit dem Segelboot
mit, in Brasilien saß er hinten auf alten
Lastwagen. Er schlief bei der Feuerwehr
und in Schulen, von Restaurants nahm
er sich, was ohnehin übrig war. Im Gegenzug
bot er seine Arbeitskraft an.“
Wer hätte auf solche Sensationen in der
großen weiten Welt in jungen Jahren
keine Lust? Die meisten jungen Abenteurer
allerdings lassen es bei einem
einmaligen Erlebnis bewenden. Nicht
so Raphael Fellmer. Er beschloss nach
seiner Rückkehr, fortan auch in Berlin
geldlos zu leben.
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