Macht die Kurve flach! Flatten the Curve – Andreas Bangemann
Wie das Coronavirus mathematische Bildung befördert und einen Weg offenbart, wie die Marktwirtschaft sich von einem Virus besonderer Art befreien kann.
Urplötzlich ist sie da: die Angst. Ein Empfinden übernimmt das Kommando über das Handeln. Der Mensch begibt sich auf die Suche nach Erklärungen. Die Gefahr will eingeschätzt werden. Dabei hilft der Verstand. Die lebensbedrohende Krankheit verbreitet sich gemäß einer mathematischen Formel, mit deren Hilfe man theoretisch errechnen kann, wie lange es dauert, bis alle Menschen infiziert sind. Die Exponentialfunktion. Mit diesem Aufsatz wird versucht, die Aufmerksamkeit auf ein Problemfeld zu richten, das der gleichen Verderben bringenden Sprengkraft unterworfen ist, wie die menschliche Gesundheit im Falle von Corona. Es unterscheidet sich nur durch einen viel langsameren Verlauf.
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Wie Ausbreitung verläuft
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SARS-CoV‑2 , ein neuartiges Coronavirus, verbreitet sich von Mensch zu Mensch und verursacht eine schwere Atemwegserkrankung namens COVID-19 (für corona virus disease 2019)
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Am 11. 3. 2020 stufte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Krankheit als Pandemie ein, weil die weltweite Verbreitung deutlich erkennbar war. Die von einzelnen Staaten nach und nach ergriffenen Maßnahmen zielten darauf ab, die Infektionskette zu unterbrechen. Die dahinterstehende Annahme einer explosionsartigen Ausbreitung zeichnete das Bild einer beängstigenden Entwicklung. Angenommen eine Person mit dem Virus würde am 1. Tag eine weitere Person infizieren und am nächsten Tag diese beiden jeweils eine zusätzliche, dann ergibt sich daraus eine Exponentialfunktion, mit deren Hilfe man errechnen kann, dass am 13. Tag aus einem angesteckten Menschen über 8.192 Infizierte würden. Nach 14 Tagen ist zwar die erste Person geheilt und steckt niemanden mehr an, aber das hilft hinsichtlich der Weiterentwicklung nicht viel, denn 8.191 werden am 14. Tag zu 16.383. Um zu verhindern, dass noch eine Woche später nicht bereits rund eine Million vormals Gesunde das Virus in sich haben, bleibt nur eine Lösung: die Anzahl der Ansteckungen muss schnellstmöglich reduziert werden. Wenn es spätestens am 7. Tag gelänge, bei den zu diesem Zeitpunkt 128 Infizierten, die Verbreitung von 1 auf 0,5 zu senken, also, dass von zweien nur einer eine weitere Person ansteckt, folgt daraus, dass innerhalb 14 Tagen nicht über 16.000, sondern nur ca. 2.200 angesteckt sind, bei 0,25 (jeder vierte steckt einen an) sind es nach zwei Wochen nur noch rund 600. Je weniger Neuinfizierte, umso flacher die Kurve, was zur Folge hat, dass die Behandlung der Erkrankten erleichtert wird und deren Überlebenschancen deutlich steigen. Ein Risikofaktor, weshalb derlei Berechnungen entscheidend sind, ist das jeweilige Gesundheitssystem in den betroffenen Ländern. Man verfügt nicht über ausreichend Notfallbetten und Beatmungsgeräte, die für einen unkontrollierten Ausbruch der Krankheit zweifellos nötig wären. Deren Nichtvorhandensein erzeugte in Italien, Spanien oder den USA bereits grauenvolle Folgen. In obigem Rechenbeispiel ist der Verdopplungszeitraum der Infiziertenzahlen ein Tag und basiert auf der vereinfachenden Annahme einer Ansteckung pro Tag und Person. Das dient nur der Berechnung von Fallzahlen. In Wahrheit waren örtliche Infektionsherde und die von dort aus in die Welt Reisende Auslöser für eine Erstausbreitung. Dennoch werden mit den „Flatten-the-curve-Maßnahmen“ längere Zeiträume bis zur Verdopplung der Infiziertenzahlen erreicht.
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In den öffentlichen Diskussionen stehen die einzelnen erlassenen Maßnahmen auf dem Prüfstand oder überdies am Pranger, weil ein Expertenstreit über die Gefährlichkeit der Viruserkrankung ausbrach. Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Das Augenmerk liegt auf dem Ziele der raschen Reduzierung von Neuansteckungen auf Basis mathematischer Berechnungen.
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China war bei der Krisenbekämpfung umfassend. Nachfolgende Maßnahmen leitete man dort rasch ein:
• Lockdowns (weitgehende Einschränkung geschäftlicher Tätigkeit) • Soziale Distanzierung, Kontaktsperren, Ausgangsverbote
• Regionale Reisebeschränkungen • Internationale Reiseeinschränkungen • Allgemeines Maskentragen • Allgegenwärtige Temperaturmessungen • Hohe Anzahl an Tests • Kontaktnachverfolgung • Zentralisierte Quarantäne
u. v. m.
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Angenommen jede einzelne dieser Maßnahmen führte im Ergebnis zu einer verringerten Infektionsrate pro Person, dann muss dies als Erfolg gewertet werden, auch wenn das individuelle Nötigungsgefühl hoch gewesen sein mag. In Konsequenz sanken die Infektionszahlen und China schien bereits zu einem normalen Leben zurückgekehrt zu sein, als es andernorts auf der Welt erst begann.
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Fazit: Zerstörerischen Entwicklungen, die explosionsartig, auf der mathematischen Grundlage einer Exponentialfunktion verlaufen – Verdoppelung von Fallzahlen innerhalb bestimmter Zeiträume – kann man nur Herr werden, wenn die Ursache der Ausbreitung ausgeschaltet und die Weiterverbreitung durch gezielte Maßnahmen verlangsamt wird.
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Mathematik und Realität
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Der US-Amerikanische Physiker und Hochschullehrer Albert Allen Bartlett begann eine Vorlesung mit diesen Worten: „Das größte Unvermögen der Menschheit ist unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen.“
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Aus Wikipedia: „Bartlett hielt ab September 1969 einen Vortrag über Arithmetik, Bevölkerung und Energie etwa 1700 mal. Er sah das anhaltende Bevölkerungswachstum als die größte Herausforderung der Menschheit an. Den Begriff Nachhaltiges Wachstum (sustainable growth) hielt er für ein Oxymoron.“
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Die 2013 verstorbene Architekturprofessorin, Autorin und Ökologin Margrit Kennedy wurde nie müde, bei ihren Vorträgen und in ihren Büchern zum Thema Geldsystem und Regionalwährungen darauf hinzuweisen, welche destruktive Rolle exponentielle Entwicklungen spielen und wie unverstanden diese dennoch blieben. Wie sie selbst erzählte, öffnete ihr Helmut Creutz diesbezüglich die Augen, der in seinem erstmals 1993 erschienenen Buch „Das Geldsyndrom“ auf das zinseszinsbedingte Wachstum von Geldvermögen und gleichlaufend mitwachsender Verschuldung und deren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft hinwies.
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Wenn das tödliche Coronavirus derzeit dieser mathematischen Funktion zu Popularität verhilft, können die damit einhergehenden menschlichen Gefühlsregungen auch dafür sensibilisieren, wo noch im täglichen Leben derlei explosionsartige Entwicklungen Gefahren erzeugen. Trotz unzähliger Beispiele, die im Mathematikunterricht bemüht werden, ist die direkte Relevanz für das eigene Berufs- oder Privatleben bei den meisten nicht auf den ersten Blick erkennbar.
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