Fülle entfalten statt Mangel erzeugen – Buchrezension von Holger Kreft
Marktwirtschaft reparieren reicht nicht
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Warum wir über die wichtigen Vorschläge von Oliver Richters & Andreas Siemoneit hinausgehen sollten, die sie in ihrem Buch von 2019 darstellen: „Marktwirtschaft reparieren – Entwurf einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Utopie.“
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Das Buch „Marktwirtschaft reparieren“ von Richters und Siemoneit regt an, über Gerechtigkeitsprinzipien und Koordinierungsmechanismen in unserer Gesellschaft nachzudenken. Es stößt mehr Gedanken an als im Rahmen einer Rezension üblich. Im folgenden Artikel wird nicht grundsätzlich gegen das Leistungsprinzip und nicht gegen den Markt als Koordinierungsmechanismus plädiert. Der positive Wert beider für die Gesellschaft in ihrem jetzigen Stadium ist unbestreitbar. Um unser Wirtschaften besser zu organisieren, reicht es aber nicht aus, die Marktwirtschaft um die kapitalistischen Elemente zu bereinigen, wie Richters und Siemoneit dies vorschlagen. Wir können an den Ideen der beiden Autoren anknüpfen und sollten – was im Grunde auch keine Überraschung darstellt – gezielt und deutlich das Leistungsprinzip und den Marktmechanismus ergänzen.
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Zum Einstieg in die Rezension rege ich ein Gedankenexperiment an: Unser gesamtgesellschaftliches Wohlfahrtsmodell und unser damit verbundenes Bewusstsein können wir uns zur Abwechslung mal wie eine Zwiebel mit ihren vielen Schalen vorstellen. Die Schalen stellen grundlegende Denkformen einschließlich der Vorstellungen, Werte und Normen unserer Gesellschaft dar. Wenn wir über dringend notwendige Veränderungen in der Gesellschaft sprechen, dann könnten aufgrund dieses Vergleichs einige Fragen auftauchen: Welche Schalen unserer Zwiebel, d. h. welche Elemente unseres Wohlfahrtsmodells, sollten wir verändern oder auch ganz ablegen? Welche sollten wir so lassen, wie sie sind? – Wir brauchen einen Durchbruch zu einer anderen Handlungslogik. Einen möglichen Weg dazu will ich mit dieser Rezension skizzieren, die über den üblichen Rahmen hinausgeht. Ich nutze das Buch als Impulsgeber für weiterführende Gedanken, um diese Brücke von einer Denkweise in andere Denkweisen zu bauen, von einer Handlungslogik in andere Handlungslogiken, also in tiefere Zwiebelschichten.
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Weitere Fragen könnten sich auf der Grundlage des Zwiebelschalenmodells im Interesse unseres Miteinanders und des Wohlergehens unserer Mitwelt ergeben: Wie tief muss die Veränderung reichen, um den Fortbestand des Ganzen zu sichern? Wie nah an die grundlegendsten unserer Vorstellungen und Überzeugungen müssen wir gehen, sollten wir uns gar an den inneren Entwickungskern unserer Zwiebel heranwagen?
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Wir können uns auch als einzelne Menschen jeweils als Zwiebeln vorstellen sowie die Organisationen und Netzwerke, denen wir uns zugehörig fühlen. Was bedeutet dann Veränderung für unsere jeweilige eigene Zwiebel und für die Zwiebeln unserer Organisationen und Netzwerke? Inwieweit fühlen wir uns selbst überhaupt betroffen? Welche Anreize nehmen wir wahr, die uns Anstöße zur Veränderung geben könnten?
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Der Titel des Buches suggeriert eine große Klarheit und Einfachheit. Auch die Sprache des Buches unterstützt das: Einfach das reparieren, was ja viele von uns bereits gut zu kennen glauben, weil die meisten von uns annehmen, dass sie in der Marktwirtschaft aufgewachsen sind. Wir müssen nur die Anteile des für viele doch inzwischen als schädlich betrachteten Kapitalismus einfach aus der real existierenden Wirtschaft herausziehen und abstoßen – und alles ist wieder gut. Das klingt verlockend. Aber Fehlanzeige!
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Mit meiner Rezension fokussiere ich auf einen Aspekt, den ich bei anderen Rezensionen dieses Buches nicht so deutlich gefunden habe:
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Die von Oliver Richters und Andreas Siemoneit vorgeschlagene Reparatur der Marktwirtschaft greift zu kurz, da sie die entscheidenden Probleme eben nicht löst. Die Veränderung muss aus meiner Sicht tiefer gehen. Dabei taucht für mich auch die Frage auf: Mit welchem eigenen Wertehintergrund gehen wir als Einzelne und als Gesellschaft Versorgungs‑, Verteilungs- und Motivationsfragen an und welche Lösungsstrategien und Handlungsoptionen erscheinen dementsprechend angemessen zu sein?
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1. Aufbau des Buches
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Die beiden Autoren haben ihr Buch in vier Teile gegliedert. In der Einleitung (Kap. 1) sensibilisieren sie die Leserïnnen für die zentralen Fragestellungen ihres Buches: die Frage, ob ein Wachstumszwang existiert und woraus sich dieser ergibt, welche Schieflagen in der Wirtschaftsordnung zu beobachten sind, welche Bedeutung leistungslose Einkommen bei der Verzerrung der Marktwirtschaft haben. (Einkommenslose Leistungen etwa für Pflege, Erziehung u. a. werden dagegen als Problemstellung in Teil II aufgeführt.)
Im Kap. 2 stellen sie zwei Wahrnehmungen von Marktwirtschaft dar. Teil I beschreibt die Schattenseiten der realexistierenden Wirtschaft. Diese werden ihrer Ansicht nach jedoch dem „Modell Marktwirtschaft“ zugeschrieben und nicht dem „Modell Kapitalismus“, von dem sie jedoch ihrer Meinung nach in Wirklichkeit stammen (S. 26 ff). Dabei erklären sie grundlegende Begriffe wie Güter, Verbrauch, Leistung, Knappheit, Preise und Wertschätzung.
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Im Teil II erläutern die Autoren die Leistungsgerechtigkeit sowie das Konzept der Marktwirtschaft anhand weiterer zentraler Begriffe. Einige der wichtigsten Teilkonzepte wie Kosten, Erlöse und Gewinn, Geld, Zins und Rendite, Wettbewerb und Nichtmarktgüter werden vorgestellt.
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