Die Wunderinsel Barataria
Die Wunderinsel Barataria
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Sancho Panza und die Kunst des Regierens
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I. Wer in der Nähe von Buenos Aires, nördlich von Mar del Plata, Urlaub machen will, kann zu dem in Mode gekommenen Küstenstädtchen und Seebad Villa Gesell reisen, den Boulevard Silvio Gesell entlangfahren, sich der Hochseefischerei oder den Badefreuden widmen oder Ateliers von Künstlern besuchen. Wo sich heute in der Saison zigtausend Touristen treffen, war noch in den dreißiger Jahren ein wüstenartiges Gelände, es gab Dünen und Sandstürme.
Carlos Gesell, Miteigentümer einer Kinderwagenfabrik, kaufte diesen 1600 Meter breiten und zehn Kilometer langen Küstenstreifen. Durch hartnäckige Bemühungen, die in den dreißiger Jahren mit Experimenten zur Bepflanzung des Sandes mehrmals scheiterten und Carlos Gesell den Namen „Verrückter der Dünen“ einbrachten, gelang es schließlich mit Strandhafer, die Dünen zu befestigen und anderen Pflanzen den Boden zu bereiten. Menschen siedelten sich in dieser kargen Kolonie an und unterwarfen sich den von Gesell erlassenen Verboten des Rauchens und des Glücksspiels sowie einem nur an Festtagen gelockerten Alkoholverbot. Das waren, alteuropäisch gesprochen, Policeyordnungen zur inneren Festigung eines autonomen Gemeinwesens, möglicherweise auch um eine Alternative zum florierenden Spielbetrieb des größeren Badeorts Mar del Plata zu bieten. Als Carlos Gesell 1977 starb, war aus seiner Siedlung längst ein normaler Touristenort geworden und ihr Gründer, eine Art eigenwilliger und sendungsbewusster Gouverneur eines öden Landstrichs, hatte seine ursprüngliche Mission aufgegeben. Der utopische Ansatz war vom realen Kapitalismus eingeholt und verschlungen worden.
Carlos Gesell war ein Sohn von (Johann) Silvio Gesell (1862–1930), einem autodidaktischen Finanztheoretiker und Sozialreformer, (Neo-)Physiokraten und Anarchisten. Er selbst bevorzugte das Wort Akrat. Er kämpfte für eine Abkoppelung der Währung von den wirtschaftlichen Zyklen und vom Goldstandard („Freigeld“), für ein Verschwinden des Zinses und für eine Sozialisierung des Bodens („Freiland“). Das „Freigeld“ stellte er sich als umlaufgesicherte internationale Währung vor. Er bejahte Eigennutz und Wettbewerb, solidarische Hilfe, freie Verträge und freie Liebe, und er schrieb gegen Staat, Schulzwang, Impfzwang, Krieg und Kapitalismus. Sein Hauptwerk, begleitet von zahlreichen Broschüren, war „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ (1916). Es erlebte neun Auflagen. Gesell verband sozialdarwinistische und anarchistische Züge und Kritik an Marx mit Sozialutopien, in denen die vorgeschlagenen Lösungen experimentell erprobt werden sollten. Von 1887 bis 1892, von 1907 bis 1911 und nochmals 1924 bis 1927 lebte er in Argentinien. Dort kaufte er ein großes Grundstück und eine Insel am La Plata. Später wohnte er meist auf der Obstbaugenossenschaft Eden in Oranienburg bei Berlin, zu deren Gründern auch der „freiheitliche Sozialist“ Franz Oppenheimer gehört hatte. 1922 veröffentlichte Gesell unter dem Pseudonym Juan Acratillo eine Broschüre „Der verblüffte Sozialdemokrat“, die in späteren Auflagen dann in „Der verblüffte Sozialist“ oder „Marxist“ umgetauft wurde, aber auch den Namen „Die Wunderinsel“ bekam. In der Sache war es eine Sozialutopie des Finanz- und Gesellschaftssystems. Der Text erschien gleichzeitig mit Fernando Pessoas fiktivem Gespräch „Banqueiro anarquista“, in dem ein mit dubiosen Mitteln reich gewordener „wissenschaftlicher Anarchist“ erklärt, wie er die für die bürgerliche Gesellschaft fundamentale „Fiktion Geld“ bezwungen und als radikaler Individualist sich selbst befreit habe. Das ist nicht nur ein Abkömmling von Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ (1845), sondern auch eine passende Parallelfigur für Silvio Gesell, der mit seinem „Freigeld“ zur anarchistischen Befreiung von Staat und Kapitalismus ansetzte.
Gesell beginnt seine „Wunderinsel“ mit den bei Utopien üblichen Versteckspielen der Autorschaft und der Lagebestimmung von Barataria. Sie liege, sagt er augenzwinkernd, „auf dem gleichen Breitengrad wie Utopia und genau 360 Grad ostwestlich dieser Insel“. „Barato“ heiße „billig“ und man bekomme dort für wenig Arbeit viel Ware. Die Insel sei 1612 durch 500 spanische Familien kolonisiert, dann aber von der Außenwelt abgeschnitten und vergessen worden. Ihre Hauptstadt heiße Villapanza. Die
Baratonen hätten zwar im ersten Jahrzehnt kommunistisch gewirtschaftet, seien aber dann zu einem privatwirtschaftlichen System übergegangen, bei dem die Währung zunächst durch Kartoffelvorräte in den Kellern, später aber (weil die Kartoffeln faulten) durch die erbsengroßen Nüsse eines Geldbaums (pinus moneta) gedeckt wurde. Vom falschen Propheten Carlos Marquez (Karl Marx) verführt, seien die Baratonen dann wieder davon abgewichen und zu einer neuen Garantie der Währung durch Hohlmaße, der Lehre vom Mehrwert, übergegangen. Nun erzeugt die Angst vor Inflation eine Deflation, Spekulanten machen sich breit, Banken und Zinsen kehren zurück, der Kapitalismus siegt, der auch den Kommunismus in seinen Dienst nimmt. Endlich wird die Insel von Engländern entdeckt, die voll Anerkennung sagen, es sei alles auf Barataria wie zu Hause in England: Reichtum und Armut nebeneinander, Klassenkampf und Repression, nun müsse man den Goldstandard einführen. Am Ende setzt sich aber Diego Martinez wieder durch, „Karl Marx“ gibt nach, das Zinsproblem ist gelöst, der Wohlstand kehrt zurück. Barataria ist die Wunderinsel, auf der es gesichertes Geld, keine Zinsen und keine Bodenspekulation gibt.
Die Insel Barataria hatte ihren Namen freilich von einem ganz anderen Vorbild, das der Spanisch sprechende Autor ohne Zweifel kannte, jener Insel nämlich, als deren Statthalter Sancho Panza im Zweiten Teil des „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes Saavedra (1547 – 1616) agiert. Dass Gesell, ohne Cervantes zu nennen, mit diesem berühmten Namen spielt, geht auch klar aus dem Namen der Hauptstadt „Villapanza“ hervor. Bald wird deutlich, dass es sich in dieser „Panza-Stadt“ darum handelt, weise Verordnungen zum Wohl des Volkes und Landes zu erlassen, nicht anders als Sancho Panza es tat, nachdem er durch den Umgang mit Don Quijote und dessen Lehrbriefe im Stil von Fürstenspiegeln auf sein Regentenamt vorbereitet worden war.
So haben wir drei sozialutopische „Inseln“ vor uns, deren Gemeinsamkeiten kurz benannt seien, bevor wir uns Sancho Panza genauer zuwenden. Vater und Sohn Gesell sind auf je ihre Weise besessen von Ideen, die sie in die Praxis umsetzen wollen. Der eine kaufte sich u. a. eine Insel, lebte in der landreformerischen und vegetarischen Kommune „Eden“, wurde in der Münchner Räterepublik für sieben Tage Minister („Volksbeauftragter“) der Finanzen, dabei kurzzeitig verhaftet, aber nach überzeugendem Plädoyer in eigener Sache freigesprochen. Kurz nach seinem Tod kam es während der Weltwirtschaftskrise zu einigen Aktionen mit dem von ihm propagierten „Freigeld“, die aber, dem geltenden Währungsrecht entsprechend, verboten wurden. Viele andere Gemeinden gaben solche Versuche daraufhin auf. Auch die 1995 in Argentinien während des Kapitalmangels entstandene Parallelwährung „Crédito“ verschwand wieder ab 2002/2003, sobald der Peso als Landeswährung wieder verfügbar war. Die bis heute – bei den „Grünen“ oder bei „Attac“ – virulenten Ideen Silvio Gesells mit ihrem antikapitalistischen und antistaatlichen Akzent gehören offenbar zu denjenigen halb anarchistischen, halb dirigistischen Utopien, die immer wieder neu entworfen, erprobt und von wirtschaftswissenschaftlichen Autoritäten unterstützt werden, ohne je eine reale Chance zu bekommen. Das gleiche lässt sich für die Obstbau-Kommune sagen, in der Gesell zeitweise lebte. Die Grundidee freilich, auf der Grundlage regionaler Solidarität eine Komplementärwährung einzuführen, die eine gewisse Unabhängigkeit von Bankkrediten schafft, hat sich immer wieder bewährt, etwa durch Gründung von Gutscheinringen, in Form von Notgeld, Regiogeld oder umlaufgesichertem Parallelgeld.
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