Über mangelndes politisches Dialektikbewusstsein – Johannes Heinrichs
Beispiel 1: Nationale Identität – Migration – Multikulturalismus – Rechtspopulismus
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Das verhängnisvolle Denken in zweiwertigen Entweder-Oder-Alternativen: ausländerfreundlich oder ausländerabweisend. Wahrung der nationalen Identität oder nivellierender Multikulturalismus. Demgegenüber steht das dialektische Konzept einer Gastfreundschaft der Kulturen: Wahrung der nationalen, kulturellen Identitäten bei im Prinzip wechselseitiger Gastfreundschaft. Gäste sind in diesem Verständnis nicht die eingewanderten Einzelnen, sondern deren Herkunftskulturen. Die Entweder-Oder-Logik wird überwunden erstens durch Unterscheidung von gastgebender Primärkultur- und Sekundärkulturen, zweitens durch systemtheoretische Unterscheidung der Ebenen Wirtschaft, Politik, Kultur und Religion, die bei der Rede von „Integration“ ständig vermischt werden. Hinzu kommt die fatale Vermischung von blutsmäßiger Abstammung und Kultur, besonders bei den die Migranten abweisenden „Rechten“, doch auch bei den „Linken“, indem diese die Unerheblichkeit der Abstammung für die Gleichheit der Menschen mit der Unerheblichkeit einer einheimischen Kultur verwechseln und zugleich die kommunikativ-kulturelle Ebene und ihrer partikulären Werte mit der Ebene universeller Grundwerte.
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So begrüßenswert in Deutschland die Solidaritätsbekundungen mit der amerikanischen Antirassismus-Bewegung anlässlich der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch das Amtshandeln eines weißen Polizisten sind, so bedenklich ist dabei eine unausgesprochene Verwechslung von Anti-Rassismus mit Multikulturalismus im Sinne einer undifferenzierten Multi-Kulti-Haltung. Auch dies ist eine Weise, biologische Rassefragen mit Kulturfragen zu verwechseln.
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Das Schibboleth (Erkennungszeichen) für die Verwirrung und Verhinderung dialektisch produktiven Denkens in Sachen Migration ist die Verwendung der Worte „Multikulturalismus“ und „multikulturell“: Was wir auf europäischer und Weltebene brauchen und bewahren, ja pflegen müssen, nämlich die Vielfalt gewachsener Kulturen, wird zum Schlagwort der Nivellierung auf nationaler Ebene, und ->Nation als politisch organisierte, doch durch Brauchtum und besonders Sprachgebrauch gewachsene kulturelle Einheit verbleibt in den Mühlen der undialektischsten Entgegensetzungen: Links und Rechts, pro oder contra Migranten. „Gastfreundschaft der Kulturen“ meint die wechselseitige Respektierung des Hausrechts einer Kultur (nach dem Ende der Völkerwanderungen). Alles andere würde zu einer Nivellierung kultureller Eigenheiten und Vielfalt führen.
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Hier wie überall gibt eine Dialektik der undialektischen Entgegensetzungen und Vermischungen. Diese „festgefahrenen Gegensätze“ (Hegel) schaukeln sich in ihrer Begriffslosigkeit gegenseitig hoch. Ein denkender Mensch sollte sich selbst verbieten, solche Schlag-Worte wie „multikulturell“ zur Etikettierung von Meinungen und Gruppen undefiniert zu benutzen! Dialektisches Denken setzt Klarheit der Begrifflichkeit voraus. Es meint das Gegenteil von Verwirrung und Beliebigkeit der Begriffe.
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Beispiel 2: Mehr Europa – mehr Nationalstaat
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Auch für Europa führt das zweiwertige Entweder-Oder zu ganz falschen, populistischen Alternativen auf beiden Seiten: der sich „progressiv“ dünkenden Linkspopulisten wie der Rechtspopulisten, Scheinalternativen, die sowohl Europa wie die Nationen weiter (über den begonnenen Brexit hinaus) ruinieren könnten. Überhaupt scheint das selbstgefällige Operieren mit den Vokabeln „rechts“ und „links“ historisch überholt und undialektisch.
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Die Nationen sind großartige kulturelle Einheiten, deren Besonderheiten den Reiz und Reichtum Europas ausmachen. Dass in ihrem Namen Kriege geführt werden konnten, ebenso wie im Namen der Religionen, beweist nur die Wahrheit eines alten römischen Spruches: Corruptio optimi pessima. Die Korruption des Besten ist die allerschlimmste. Auf der anderen Seite braucht es wirtschaftliche und politische Einheit sowohl für die innereuropäische Verständigung (Frieden im nicht nur militärischen Sinne) wie für das Bestehen wie Mitgestalten in der globalisierten Welt. Bei Berücksichtigung der Systemebenen sowie der Subsidiarität der umfangsmäßigen Einheiten können und müssen Wirtschaft und Politik durchaus vereinheitlicht werden, ohne dass die Nationen als Kultureinheiten Schaden erleiden. Doch vor dieser vertikalen Gliederung schließen derzeit noch alle Seiten die Augen. Der „Weltgeist“ (Hegel meint den menschheitlich kollektiven Geist) hat einen langen Atem zur Durchsetzung seiner Logik, und manche Katastrophe braucht es leider für deren Durchsetzung, so z. B. die Weltkriege zur Schaffung internationaler Institutionen, wie sie schon von Kant gefordert wurden, und leider weiterer kalter und heißer Kriege.
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