Charles Darwin, der Zufall und der liebe Gott – Gero Jenner

Eine philo­so­phi­sche Exkursion

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1970 erschien Jacques Monods Aufse­hen erre­gen­des Buch „Le Hasard et la Néces­si­té“ (Zufall und Notwen­dig­keit), in dem der Bioche­mi­ker die Welt­sicht, welche seit dem 17ten Jahr­hun­dert erst Europa und heute die ganze Welt beherrscht, in einem Buch­ti­tel auf einen einzi­gen Satz verdich­tet. Für einen illu­si­ons­lo­sen Wissen­schaft­ler sei die Welt nichts als Zufall und Notwen­dig­keit. Denn es gebe in ihr eben nichts als diese beiden Prin­zi­pi­en: einer­seits Notwen­dig­keit als jene Ordnung, welche die Natur­wis­sen­schaf­ten in Gestalt von Geset­zen erkun­den, ande­rer­seits den Zufall, welcher inner­halb der bestehen­den gesetz­haf­ten Ordnung eine Leer­stel­le bezeich­net – ein sinn­lo­ses Nichts, womit die Wissen­schaft nichts anzu­fan­gen vermag.

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Seit Monod diese Formel aufstell­te, hat die Neuro­lo­gie gewal­ti­ge Fort­schrit­te gemacht, sein Buch ist längst nicht mehr „aktu­ell“, aber ganz aktu­ell ist die Auffas­sung, wonach die Wirk­lich­keit dem Wissen­schaft­ler – und also uns allen – nichts als diese beiden Dimen­sio­nen zu bieten habe, die bere­chen­ba­ren Mecha­nis­men der physi­ka­li­schen wie der neuro­na­len Welt einer­seits, die gähnen­de Leere des sinn­lo­sen Zufalls auf der Gegenseite.

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Die Erkun­dung von Ordnung (Geset­zen) stell­te immer schon die eigent­li­che Aufga­be der Erkennt­nis dar. Dage­gen wurde der Zufall lange Zeit als so störend und über­flüs­sig empfun­den, dass man seine Exis­tenz über­haupt in Zwei­fel zog, und zwar gleich auf doppel­te Weise. Beispiels­wei­se konnte man mit Voltaire der Meinung sein, dass er ledig­lich unser vorläu­fi­ges Nicht­wis­sen bezeich­ne. Diese Meinung kann sich auf hand­fes­te Argu­men­te stüt­zen, denn unend­lich vieles, was unse­ren Vorfah­ren noch als bloßer Zufall erschien, zum Beispiel Chole­ra­epi­de­mien oder Mond­fins­ter­nis­se, hat die moder­ne Wissen­schaft inzwi­schen von ganz bestimm­ten Ursa­chen ablei­ten und somit als gesetz­haft erklä­ren können. Der Schluss lag daher, den Zufall gene­rell als bloße Lücke mensch­li­cher Erkennt­nis zu deuten. In dem Maße wie der Fort­schritt der Wissen­schaf­ten diese Lücke mit Wissen füllt, würden wir ihn daher besei­ti­gen und am Ende über­all nur noch gesetz­haf­te Ordnung erkennen.

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Das jeden­falls war die Meinung von Baruch de Spino­za ebenso wie von dessen großem Bewun­de­rer, Albert Einstein, der die eigene Ableh­nung des Zufalls bekannt­lich in ein berühm­tes Diktum geklei­det hat. „Gott würfelt nicht“, sagte Einstein. Mit ande­ren Worten, Gott schaf­fe nur Ordnung, denn Ordnung erschließt sich der Vernunft, ist ratio­nal. Dage­gen haftet dem Zufall der Ruch des Wert­lo­sen, des Irra­tio­na­len an. Zwei­fel­los schwingt in seiner Herab­set­zung die Vorstel­lung mit, dass uns hier etwas ganz Unbrauch­ba­res und Über­flüs­si­ges begegnet.

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Aber der Zufall ist mehr als nur eine Lücke unse­res Wissens 

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Es war eine epocha­le Entde­ckung, dass die Quan­ten­phy­sik dem Zufall wieder zu einem Blei­be­recht im wissen­schaft­li­chen Welt­bild verhalf. Die Königs­dis­zi­plin der Wissen­schaf­ten, die Physik, führte gegen Anfang des 20ten Jahr­hun­derts neben der Ordnung und dem Bere­chen­ba­ren (ausge­drückt in Geset­zen) deren genau­es Gegen­teil ein, nämlich die Abwe­sen­heit von Ordnung – eben den Zufall. In der Quan­ten­phy­sik wurde das bis dahin gelten­de Grund­prin­zip der klas­si­schen Physik aufge­ge­ben, wonach man jeder bestimm­ten Wirkung auch eine ganz bestimm­te Ursa­che zurech­nen könne. Werner Heisen­berg drück­te das auf folgen­de Weise aus. „Zum Beispiel kann ein Radi­um­atom ein Alpha-Teil­chen aussen­den. Wenn die Aussendung des Alpha-Teil­chens beob­ach­tet wird, so fragen die Physi­ker… nicht mehr nach einem voraus­ge­hen­den Vorgang… Wenn wir den Grund dafür wissen wollen, warum das Alpha-Teil­chen eben in diesem Augen­blick emit­tiert.. /worden ist/, so müss­ten wir dazu den mikro­sko­pi­schen Zustand der ganzen Welt, zu der auch wir selbst gehö­ren, kennen, und das ist sicher unmöglich.“

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Der Zufall hat die Welt der klas­si­schen Physik, die als durch und durch bere­chen­bar vorge­stellt wurde, um die Dimen­si­on des Unbe­re­chen­ba­ren erwei­tert. Jacques Monod hat dies auf den Punkt gebracht, wenn er in den folgen­den Sätzen über jene Geschich­te spricht, die man heute als Evolu­ti­on bezeich­net, während sie früher einmal als Schöp­fungs­ge­sche­hen verstan­den wurde: „Der Zufall allein ist die Quelle jeder Inno­va­ti­on, jeder Schöp­fung in der Biosphä­re. Der reine Zufall, abso­lut frei, aber blind, an der Wurzel des gewal­ti­gen Bauwerks der Evolu­ti­on: dieses zentra­le Konzept der moder­nen Biolo­gie ist nicht mehr eine unter ande­ren mögli­chen oder gar denk­ba­ren Hypo­the­sen. Sie ist heute die einzig denk­ba­re Hypo­the­se, die einzi­ge, die mit beob­ach­te­ten und getes­te­ten Fakten in Einklang steht.“

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Der fran­zö­si­sche Bioche­mi­ker würde aller­dings nicht so empha­tisch auf der Allein­gül­tig­keit dieser Hypo­the­se bestan­den haben, hätte er nicht deren Gegner vor Augen gehabt, die reli­giö­sen „Animis­ten“, wie er sie nennt, die dem Gesche­hen der Evolu­ti­on einen Sinn beile­gen wollen. Doch diesen Sinn gebe es eben nicht. Der Wissen­schaft­ler, gleich­gül­tig ob Physi­ker oder Neuro­lo­ge, könne in der gesam­ten Entste­hungs­ge­schich­te der Welt nichts ande­res erbli­cken als einen gesetz­haf­ten Mecha­nis­mus, der seine Fort­ent­wick­lung einem blin­den, d. h. sinn­lo­sen, Zufall verdankt. Und um ganz sicher zu gehen, dass jeder Leser das Ausmaß der von ihm behaup­te­ten Sinn­lo­sig­keit auch rich­tig erfasst, bezeich­net Monod den Zufall noch als „lärmen­des Rauschen“ (engl. noise). „Man kann also sagen, dass diesel­be Quelle von zufäl­li­gen Störun­gen, von ‚Lärm‘, die in einem nicht leben­den.. System nach und nach zum Zerfall aller Struk­tu­ren führen würde, der Stamm­va­ter der Evolu­ti­on in der Biosphä­re ist und für die unein­ge­schränk­te Frei­heit der Entfal­tung verant­wort­lich ist.“

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In diesen vernich­tend trost­lo­sen Zeilen fasst Monod das Welt­bild der moder­nen Wissen­schaf­ten zusam­men. Wem sie aber noch nicht trost­los genug sind, der könnte die Absicht des großen Biolo­gen noch mit einer Meta­pher ergän­zen, die das Gemein­te auf bild­haf­te Art illus­triert. In der Sicht der Prophe­ten und Reli­gi­ons­grün­der aller Zeiten saß ein Dich­ter wie Dante an der Schreib­ma­schi­ne, um die gött­li­che Komö­die zu verfas­sen, nur dass dieser Dich­ter Gott selber war, der den Kosmos dabei nach einem Heils­plan erschuf, den seine Geschöp­fe verste­hen können. Nach Vorstel­lung der großen Denker seit dem 17ten Jahr­hun­dert fällt diese Rolle dage­gen einem Affen zu, der sinn­los auf die Tasten eindrischt, wobei nach Verlauf von Äonen der Zufall die gött­li­che Komö­die bzw. den Kosmos rein mecha­nisch hervor­bringt. Gott reprä­sen­tiert im einen Fall die verkör­per­te Intel­li­genz und Weis­heit, der Affe aber das genaue Gegen­teil, die verkör­per­te Nicht-Intel­li­genz, einen Fall für das Irrenhaus.

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Das Beson­de­re beider Bilder liegt meiner Auffas­sung nach darin, dass man sie beide falsch nennen muss – und zwar falsch nach den Maßstä­ben von Wahr­heit und Wissen­schaft. Dass das erste der beiden Bilder nicht stim­men kann, wonach Gott ein Univer­sum erschuf, dessen Heils­plan dem Menschen ratio­nal zugäng­lich ist, war den Wissen­schaft­lern früh aufge­fal­len – Monod steht da in einer vier­hun­dert­jäh­ri­gen Tradi­ti­on. Aber auch Albert Schweit­zer, großer Theo­lo­ge und noch größe­rer Mensch, bekennt sich zu dieser Einsicht. „Die raffi­nier­ten und hinter­lis­ti­gen Versu­che, die Welt in opti­mis­tisch-ethi­schem Sinne zu begrei­fen, haben keinen besse­ren Erfolg als die naiven. Was unser Denken als Erkennt­nis ausge­ben will, ist immer nur eine unge­recht­fer­tig­te Deutung der Welt. Gegen dieses Einge­ständ­nis wehrt sich das Denken mit dem Mut der Verzweif­lung, weil es fürch­tet, dem Problem des Lebens dann ratlos gegen­über­zu­ste­hen. Welchen /moralischen/ Sinn dem Menschen­da­sein geben, wenn wir darauf verzich­ten müssen, den /moralischen/ Sinn der Welt zu erken­nen? Aber es bleibt dem Denken nichts ande­res übrig, als sich in die Tatsa­chen zu fügen“.

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Eine eindeu­ti­ge Stel­lung­nah­me! Die größ­ten Reli­gi­ons­kri­ti­ker hätten sich nicht deut­li­cher ausspre­chen können als Albert Schweit­zer in diesen Zeilen, wenn er die mora­li­sche Deutung der Evolu­ti­on als „hinter­lis­tig“ bezeich­net. Seit Tausen­den von Jahren haben Menschen ihren Göttern Heils­plä­ne zuge­schrie­ben, sie erdach­ten sich einen Sinn für die Welt, aber der wissen­schaft­lich nüch­ter­ne Beob­ach­ter muss fest­stel­len, dass die Tatsa­chen mit keiner dieser mytho­lo­gi­schen Konstruk­tio­nen im Einklang stehen.

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Aber das Gegen­bild vom blin­den und sinn­lo­sen Zufall deswe­gen weni­ger falsch? Nein, man muss noch ein viel härte­res Wort gebrau­chen, mit dem man heute diesel­be Verdam­mung ausspricht wie in frühe­ren Zeiten mit den Worten „athe­is­tisch“ oder „gott­los“. Das Bild vom Affen, der rein mecha­nisch auf die Tasten drischt, ist schlicht „unwis­sen­schaft­lich“ und bleibt es auch dann noch, wenn man sich mit Monod damit begnügt, den Zufall als „blind“ und „sinn­los“ zu bezeich­nen. Unwis­sen­schaft­lich heißt in diesem Fall, dass wir mehr behaup­ten, als wir je wissen können. Denn eine Sache können wir nur dann mit Eigen­schaf­ten bele­gen, wenn wir sie kennen. Doch genau das ist beim Zufall gerade nicht der Fall. Wir wissen nicht, was der Zufall ist und können ihn nicht künst­lich erzeu­gen (schon gar nicht durch einen „Zufalls­ge­nera­tor“!). Jeder Algo­rith­mus, durch den wir ihn darzu­stel­len versu­chen, auch der komple­xes­te, erzeugt notwen­dig wieder­hol­ba­re Ordnun­gen – also das genaue Gegen­teil des Zufäl­li­gen. Wer den betref­fen­den Algo­rith­mus kennt, ist daher auch in der Lage, sein Resul­tat vorher­sa­gen. Den echten Zufall können wir über­haupt nur dadurch imitie­ren, dass wir die Wirk­lich­keit einbe­zie­hen, indem wir einen bestimm­ten Algo­rith­mus z. B. stets dann auslö­sen, wenn ein echter Zufall geschieht, z. B. wenn ein mit ihm verbun­de­ner Sensor auf der Straße eine Frau mit gelbem Hemd vorbei­ge­hen sieht. Das ist dann ein genau­so zufäl­li­ges Ereig­nis, wie wenn ein die Straße über­que­ren­der Passant von dem Ziegel erschla­gen wird, der ihm plötz­lich vom Dach her auf den Kopf fällt (Monod bedient sich dieses Beispiels, um den Zufall zu illustrieren).
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