Covid-19 fordert das herrschende Paradigma heraus – Holger Kreft

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Nach unse­rer domi­nan­ten Denk- und Lebens­wei­se ist alles knapp, während unsere mensch­li­chen Bedürf­nis­se angeb­lich unbe­grenzt sind. Fast alles wird zur Ware oder zur Dienst­leis­tung gemacht, quan­ti­fi­ziert, mone­ta­ri­siert, vermark­tet. Wenn auch die Anzahl reicher Menschen wächst, nimmt der Anteil der Perso­nen an der Mensch­heit ab, der sich immer mehr Ressour­cen verfüg­bar macht. Die Ungleich­ver­tei­lung nimmt zu. Die Natur­gü­ter werden für unbe­grenz­tes Wachs­tum ausge­beu­tet. Dies drückt sich in unse­ren Werten und Prin­zi­pi­en aus und verding­licht sich durch insti­tu­tio­nel­le Arran­ge­ments wie Geset­ze, Normen, Routi­nen, Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren (etwa die der Finanz­wirt­schaft, oder wie wir unser Geld konsti­tu­ie­ren) und Markt­de­signs (bspw. des Immo­bi­li­en­mark­tes), durch Tech­no­lo­gien, Geschäfts­mo­del­le, Wirt­schafts- bzw. Wohl­stands­mo­del­le sowie durch das Wissen der meis­ten unse­rer Fach­leu­te (z. B. Wirt­schafts­pro­fes­so­ren), durch Welt­an­schau­un­gen, Haltun­gen, Glau­bens­sät­ze, Einstel­lun­gen der einzel­nen Menschen sowie unser alltäg­li­ches indi­vi­du­el­les Handeln. Alles dies zusam­men entschei­det über Nach­hal­tig­keit oder Nicht-Nach­hal­tig­keit des Gebens und Nehmens in Bezie­hung zu unse­ren Mitmen­schen und zur Natur.
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Solch eine allge­mein und global verbrei­te­te „Denk- und Fühl­hal­tung“ in ganzen Gesell­schaf­ten, auch Para­dig­ma genannt, ist die ideo­lo­gi­sche Essenz, die Quelle und zugleich auch die Folge der Syste­me, mit denen wir leben. Das Erken­nen des domi­nie­ren­den Para­dig­mas unse­res Wirt­schaf­tens in allen seinen Mani­fes­ta­tio­nen ist viel­leicht auch der zentra­le Hebel zum Aufbre­chen nicht-nach­hal­ti­ger Entwick­lun­gen. Entschei­dend dürfte es also sein, dieses Denken und Fühlen über­all aufzu­spü­ren und es zu begrei­fen, um dann an seiner Verän­de­rung mitzuwirken.

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Seit März 2020 wird die vorherr­schen­de Art und Weise unse­res Umgangs mit der Welt durch die Pande­mie heraus­ge­for­dert. Unsere grund­le­gen­den mensch­li­chen Bedürf­nis­se und die Natur rücken immer mehr in den Mittel­punkt. Einge­fah­re­ne Entwick­lungs­pfa­de, die bislang durch insti­tu­tio­nel­le Arran­ge­ments und unsere Verhal­tens­wei­sen stabi­li­siert werden, zeigen leich­te Auflö­sungs­er­schei­nun­gen, und das System wird zumin­dest vorüber­ge­hend durch die Pande­mie mehr oder weni­ger neu ausge­rich­tet. Die Verän­de­rungs­kom­pe­ten­zen der Menschen wurden und werden gefor­dert und teil­wei­se auch schon gestärkt.

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Das alte Para­dig­ma kämpft nicht nur mit neuen und progres­si­ve­ren, sondern auch mit noch älte­ren und regres­si­ven Ausprä­gun­gen. Ein Rück­fall in noch älte­res Denken und Fühlen ist jeder­zeit möglich und wird leider auch tatsäch­lich beob­ach­tet. Oft werden auch noch immer kurz­fris­ti­ge Nothil­fen gegen lang­fris­ti­ge Gemein­wohl-Orien­tie­run­gen ausgespielt.

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Wie können wir das aktu­el­le Gele­gen­heits­fens­ter Covid-19 nutzen, um für uns alle – für jeden einzel­nen Menschen – immer mehr Grund­ge­bor­gen­heit zu bewir­ken und zu erschaf­fen, wie lassen sich Stagna­ti­on oder gar Regres­si­on vermei­den? Wie kommen wir aus der Knapp­heit in die Fülle? Welche Verän­de­run­gen sind dazu „innen“, an unse­ren eige­nen menta­len Infra­struk­tu­ren (H. Welzer), und „außen“, an unse­ren tech­ni­schen, ökono­mi­schen, juris­ti­schen, kultu­rel­len Insti­tu­tio­nen und Infra­struk­tu­ren, notwen­dig? Wie können wir uns mit unse­ren Impul­sen in den laufen­den Strom der Verän­de­run­gen einklin­ken, das Neue einfä­deln und auf den Weg bringen?

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Dieser Arti­kel fußt auf einem Beitrag des Autors zu einem gemein­sa­men Thesen­pa­pier des Netz­werks „Corona und sozi­al­öko­lo­gi­sche Forschung“ des CDE Bern und der HNE Ebers­wal­de „Looking at the Corona pande­mic from a sustaina­bi­li­ty rese­arch perspec­ti­ve: A multi­di­sci­pli­na­ry reflec­tion“ in: Special Issue des Sustaina­bi­li­ty Manage­ment Forum: Sustaina­bi­li­ty and Adapt­a­ti­on: Navi­ga­ting COVID-19 (in Vorbereitung).
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