Krieg und Wahrheit – Ernst Niemeier

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Günther Moewes‘ kühne Behaup­tung, dass der Westen den Ukrai­ne­krieg hätte verhin­dern können, weist den Autor tatsäch­lich – wie er selbst es formu­liert – als „Nicht­ex­per­ten“ aus. Seine Thesen, die NATO und die USA hätten nur auf Russ­lands „berech­tig­te Forde­run­gen“ nach vertrag­li­chen Sicher­heits­zu­sa­gen einge­hen müssen, vernach­läs­si­gen die bestehen­den Sicher­heits­ver­ein­ba­run­gen der NATO-Russ­land-Grund­ak­te von 1997, die in Abspra­che mit Russ­land die Osterwei­te­rung der NATO erlaub­te, die die von Russ­land gefor­der­ten Waffen- und Trup­pen-Statio­nie­rungs­ver­ein­ba­run­gen enthält und die jedem Staat das Recht zuspricht, über seine Mitglied­schaft in Sicher­heits­ver­bän­den selbst entschei­den zu dürfen. Ferner beach­tet Moewes nicht, dass Putin 2004 die Osterwei­te­rung als für Russ­land nicht bedroh­lich bezeichnete.
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Eigent­lich waren 1997 die Sicher­heits­in­ter­es­sen sowohl des Westens als auch Russ­lands einver­nehm­lich gere­gelt, so dass sich die Frage stellt, weshalb Putin aus diesem System der bestehen­den Sicher­heits­ab­spra­chen ausge­bro­chen ist.
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Sicher­heits­po­li­ti­scher Ausgleich durch die NATO-Russland-Grundakte
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Die Osterwei­te­rung der NATO, über die die Sowjet­uni­on und später Russ­land zwar nie begeis­tert war, ist aber auf der Grund­la­ge bestimm­ter Zusa­gen an Russ­land und unter Einbin­dung Russ­lands in die Gestal­tung der west-östli­chen Bezie­hun­gen in der NATO-Russ­land-Grund­ak­te im Mai 1997 verein­bart und von Jelzin für Russ­land akzep­tiert worden. Diese Grund­ak­te war das Ergeb­nis der Bemü­hun­gen der west­li­chen Länder, einen Ausgleich der sicher­heits­po­li­ti­schen Inter­es­sen der NATO-Part­ner einer­seits und Russ­lands ande­rer­seits herzu­stel­len. Es wurde ein Verzicht auf Andro­hung oder Anwen­dung von Gewalt gegen­ein­an­der oder gegen einen ande­ren Staat verein­bart, die Achtung der Souve­rä­ni­tät jedes Staa­tes und die terri­to­ria­le Unver­sehrt­heit von Gren­zen aner­kannt. Und es wurde das Recht der Staa­ten akzep­tiert, die Zuge­hö­rig­keit zu einem Sicher­heits­bünd­nis selbst wählen zu dürfen. Ferner wurde auf die Statio­nie­rung von Atom­waf­fen in den neuen NATO-Mitglied­staa­ten in Mittel- und Osteu­ro­pa verzich­tet und die dorti­ge Statio­nie­rung von Trup­pen begrenzt.
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Erst auf dieser Grund­la­ge der Einbin­dung Russ­lands waren die west­li­chen Staa­ten bereit, die NATO nach Osten auszu­wei­ten. Diese Ausdeh­nung wurde dabei nicht von den West­mäch­ten betrie­ben, sondern von den ehema­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken gefor­dert, die – wie sich in einer Reihe von Ländern zeigte – sehr berech­tigt immer noch Aggres­sio­nen Russ­lands fürch­te­ten und sich dage­gen durch den NATO-Beitritt sichern woll­ten. Ausge­löst wurden die Eintritts­be­mü­hun­gen schon 1992 durch die Ereig­nis­se des Bosni­en­krie­ges, als Russ­land die Repu­blik Bosni­en-Herze­go­wi­na angriff und es zu Gewalt gegen die Zivil­be­völ­ke­rung und zu ethni­schen Säube­run­gen kam, sowie im Dezem­ber 1994, als Russ­land in die abtrün­ni­ge Repu­blik Tsche­tsche­ni­en einmarschierte.
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Putin sah Russ­land durch die NATO nicht bedroht
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Mit der NATO-Russ­land-Grund­ak­te sollte nun eine neue Zeit anbre­chen, in der sich Russ­land und die west­li­chen Länder nicht mehr als Gegner betrach­te­ten. Es sollte gemein­sam ein dauer­haf­ter und umfas­sen­der Frie­den auf der Grund­la­ge der Prin­zi­pi­en der Demo­kra­tie und der koope­ra­ti­ven Sicher­heit geschaf­fen werden. Russ­land sollte und wollte der Erklä­rung zufol­ge den Aufbau einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft fort­set­zen und die poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Trans­for­ma­ti­on mit Beach­tung der Menschen­rech­te fortsetzen.
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In der Bundes­tags-Rede im Jahre 2001 stell­te Putin – er war seit 1999 erst als Minis­ter­prä­si­dent, dann als Präsi­dent im Amt – fest, dass sich Russ­land für Frei­heit und Demo­kra­tie entschie­den habe. Im Jahre 2004 äußer­te er sich am 2. April in einer gemein­sa­men Pres­se­kon­fe­renz mit Kanz­ler Schrö­der zur posi­ti­ven Entwick­lung der Osterwei­te­rung. In diesem Jahr wurden weite­re Länder, auch drei ehema­li­ge Sowjet­re­pu­bli­ken, in die NATO aufge­nom­men. Putin stell­te trotz­dem fest: „Hinsicht­lich der NATO-Erwei­te­rung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicher­heit der Russi­schen Föde­ra­ti­on“ (ZEIT 24. 2. 2022). Bei dem wenig später statt­fin­den­den Besuch des NATO-Gene­ral­se­kre­tärs Jens Stol­ten­berg bestä­tig­te er, dass jedes Land „das Recht (habe), seine eigene Form der Sicher­heit zu wählen“.
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Falsche Begrün­dun­gen für den Ukraine-Krieg
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Die NATO-Russ­land-Grund­ak­te und Putins Aussa­gen im Jahre 2004 bele­gen, dass Russ­land die NATO-Osterwei­te­rung nicht wirk­lich als ernst zu nehmen­de Bedro­hung ansah. Und objek­tiv handel­te es sich auch nicht um eine Bedro­hung Russ­lands. Trotz­dem begrün­de­te Putin den Kriegs­be­ginn mit der Nicht­er­fül­lung der von ihm gefor­der­ten Sicher­heits­ga­ran­tien. Erstens die NATO nicht nach Osten auszu­deh­nen und insbe­son­de­re die Ukrai­ne nicht aufzu­neh­men sowie weder Trup­pen noch Waffen in diesen Ländern zu statio­nie­ren. Die Forde­rung nach Ausschluss des Beitritts auch der Ukrai­ne in die NATO stand nicht nur im Wider­spruch zur NATO-Russ­land-Grund­ak­te, sie hätte Russ­land ein nicht zu recht­fer­ti­gen­des Mitbe­stim­mungs­recht bei der Wahl der Vertei­di­gungs­bünd­nis­se einge­räumt und die Souve­rä­ni­tät der betrof­fe­nen Länder verletzt. Sie war deshalb – entge­gen der Einschät­zung von Moewes – nicht vertret­bar. Die NATO hat eine solche Verein­ba­rung auch abgelehnt.
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