„Vergiss den Planeten, rette den Garten“ – Marianne Gronemeyer
Subsistenz – Warum im Winzigen und Unscheinbaren die Kraft zum Üppigen steckt
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„Wir stehen heute vor einer historisch vollkommen neuen Situation, denn es ist unsere Aufgabe, uns von einer relativ gut funktionierenden, reichen und mächtigen Gesellschaft zu befreien … Wir stehen vor dem Problem, uns von einer Gesellschaft zu befreien, in der die Mittel der materiellen und sogar der kulturellen Bedürfnisbefriedigung weitgehend zur Verfügung stehen – einer Gesellschaft, die, plakativ formuliert, Güter für einen immer größeren Teil der Gesellschaft bereitstellt. Daraus folgt, dass wir uns von einer Gesellschaft befreien müssen, in der es für diese Befreiung offensichtlich keine Massenbasis gibt.“
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Was Herbert Marcuse sich hier zu fordern traute, ist nichts Geringeres als eine Revolution der Reichen. Und die ist offensichtlich ein Unding. Revolutionen werden nicht von den Reichen angezettelt, sie sind der Aufruhr der Zukurzgekommenen, die von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossen sind, und derer, denen es um Kopf und Kragen geht, die nichts zu verlieren haben, die unterjocht, ausgeplündert, erniedrigt, schreiender Ungerechtigkeit ausgesetzt und in die Sklavenarbeit für die Reichen gezwungen sind. Warum jedoch sollten die gut Ausstaffierten, denen es wohl ergeht, die mit allem gut versorgt sind, deren „materielle, ja sogar kulturelle Bedürfnisse“ leidlich – oder gar überleidlich – befriedigt sind, Revolutionen in Gang setzen wollen? Die einzige Unzufriedenheit, die sie revolutionär stimmen könnte, also auf Veränderung sinnend, wäre der Unmut darüber, dass es ihnen immer noch nicht gut genug geht. Aber dieser Unmut erzeugt keine Lust auf umstürzende Neuerung, sondern auf verbessertes und verfeinertes weiter so!
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Darin wären sich die reichen Giganten der Beletage mit den mickerigen Reichen des Souterrains durchaus einig. Sie haben etwas zu verteidigen; das dämpft ihre Angriffslust erheblich. Kurzum: ein revolutionäres Subjekt, das nicht nur aus dem Wohlleben heraus, sondern wegen seines Wohllebens auf die Barrikaden ginge und eine auf Umsturz gerichtete Gesinnung ausbrütete, ist logisch und psychologisch ausgeschlossen. So ist also der Gedanke, dass die im Wohlleben Eingehausten ihres Wohllebens wegen und um sich seiner zu entledigen, aufbegehren, absurd oder hoffnungslos träumerisch. Marcuse selbst sieht das sehr klar.
Die Ausbreitung einer franziskanischen Gesinnung steht also wirklich nicht zu befürchten. Und wer sich heute aus Protest öffentlich seine Kleider vom Leibe risse, dürfte gewiss nicht dahingehend missverstanden werden, dass er zur Feier einer neuen Armut und befreienden Selbstbegrenzung einladen möchte. Selbst da, wo die „neue Lust an der Askese“ annonciert wird, ist ja nicht Armut gemeint, sondern gespielte Armut inmitten des Reichtums. Ein Erlebniskitzel, den man keinesfalls auslassen darf, genauso wenig wie die herrliche Erfahrung der „Entschleunigung“ in den eigens dafür reservierten Urlaubstagen, während man es doch im Alltag mehr mit der Raserei und der Effizienz hält.
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Maßlose Alternativen
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Das ist übrigens die schlagende Rezeptur zur Steigerung des Lebensgefühls: Schluss mit den grässlich beschränkenden Alternativen. Wir wollen alles: das Ding und sein Gegenteil, Sicherheit und Freiheit, Hochgeschwindigkeit und Entschleunigung, Reichtum und Askese, Dauerbeschallung und stille Einkehr, Besitz (also das, worauf man fest sitzt) und Mobilität, Konsum und Kreativität.
Es ist Marcuse unbedingt darin zuzustimmen, dass es eben dieser Revolution der Reichen und relativ Reichen bedürfte, wenn es noch etwas zu hoffen geben soll. Denn der relative Reichtum der Vielen in den reichen Gesellschaften ist vielleicht aufs Ganze gesehen noch ruinöser als der Reichtum der Wenigen. Nicht nur wegen der Ausplünderung und Zerstörung unseres Lebensraumes, der diesen Ansprüchen nicht gewachsen ist; sondern auch wegen der Zukunft eines halbwegs zivilisierten demokratischen Miteinanders der Menschen. George Steiner drückt ein „nahezu physisches Entsetzen aus“, wenn er sich die Anzeichen eines Faschismus des Wohlstands vergegenwärtigt: „Weder Montesquieu noch Tocqueville, weder Marx noch Raymond Aaron oder wer auch immer hatten geahnt, dass der Wohlstand ebenfalls den Faschismus hervorbringen kann. Bislang hatte man für das Ressentiment, die Inflation, die Niederlage, den benachteiligten Kleinbürger angeführt … Nichts dergleichen! Die Wähler Haiders sind Leute, denen es in jeder Hinsicht gut geht, die sogar im Überfluss leben. Das ist ein Phänomen, das eine neue Analyse erfordert.“
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