Nicht Wachsen, sondern Schrumpfen muss jetzt das Ziel sein. – Siegfried Wendt

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1. Das deut­sche Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP)

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Seit Bestehen der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land ist unser Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) bis auf wenige Ausnah­men dauernd gewach­sen (s. Abbil­dung  1). Der Corona-beding­te Rück­gang im Jahr 2020 betrug nur 3,5 %. Für 2021 sagen die sog. Wirt­schafts­wei­sen sogar wieder einen Anstieg des BIP voraus.
Dass der Wert des BIP im Jahr 2019 um den Faktor 9,5 höher war als 1970, bedeu­tet nicht, dass der Wert der im Jahr produ­zier­ten Güter und Dienst­leis­tun­gen seit 1970 um diesen Faktor zuge­nom­men hat, denn in der glei­chen Zeit gab es eine Infla­ti­on, welche die Kauf­kraft unse­rer jewei­li­gen Währung – DM bzw. Euro – in den vergan­ge­nen 50 Jahren insge­samt um den Faktor 3,5 redu­zier­te. Unter Berück­sich­ti­gung dieses Faktors werden also heute nicht 9,5‑mal, sondern nur 2,7‑mal so viele Güter und Dienst­leis­tun­gen im Jahr produ­ziert wie vor 50 Jahren.

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Auffäl­lig ist die Tatsa­che, dass in der glei­chen Zeit das mitt­le­re Einkom­men der deut­schen Lohn- und Gehalts­emp­fän­ger – infla­ti­ons­be­rei­nigt – nur um den Faktor 1,9 gestie­gen ist (s. Fußno­te). Vom Wohl­stands­zu­wachs seit 1970 haben also die Lohn- und Gehalts­emp­fän­ger weni­ger profi­tiert als die Mitbür­ger mit anders­ar­ti­gen Einkommen.

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Man kann fest­stel­len, dass zurzeit noch alle Poli­ti­ker und auch fast alle Medien grund­sätz­lich davon ausge­hen, dass eine Wirt­schafts­kri­se bewäl­tigt ist, wenn das BIP nach der Krise wieder den Wert vor der Krise erreicht hat und von dort an wieder weiter steigt. Wenn fast das ganze Volk eines Landes über Jahr­zehn­te hinweg seine Regie­run­gen dafür gelobt hat, dass sie für ein dauern­des Wachs­tum des Brut­to­in­lands­pro­dukts sorg­ten, braucht man sich nicht zu wundern, dass bisher noch keine Regie­rung bereit war, die Bevöl­ke­rung auf die unver­meid­li­che dras­ti­sche Schrump­fung des BIP im Laufe der kommen­den Jahr­zehn­te vorzubereiten.

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2. Eine ganz neue Quali­tät von Krise

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Jeder kennt zwar die Weis­heit, „dass die Bäume nicht in den Himmel wach­sen“, und viele wissen, dass schon 1972 der Club of Rome eine Analy­se mit dem Titel „Die Gren­zen des Wachs­tums“ veröf­fent­lich­te, aber diese Erkennt­nis­se werden immer noch konse­quent verdrängt. In der Analy­se des Club of Rome ging es nur um die Erschöp­fung der Rohstoff­re­ser­ven; inzwi­schen ist das Wissen um den menschen­ge­mach­ten Klima­wan­del hinzu­ge­kom­men. Beides zusam­men wird unver­meid­lich in weni­gen Jahr­zehn­ten zu einer Krise führen, der gegen­über die bishe­ri­gen wirt­schaft­li­chen Krisen gera­de­zu lächer­lich klein erschei­nen werden. Es wird dann nämlich nicht mehr möglich sein, das BIP auch nur annä­hernd auf dem heuti­gen Niveau zu halten. Deshalb sollte man heute schon damit begin­nen, die Menschen von der unver­meid­lich kommen­den star­ken Schrump­fung des Brut­to­in­lands­pro­dukts zu über­zeu­gen. Denn nur, wenn die Erdbe­woh­ner mehr­heit­lich von der Unver­meid­bar­keit dieser Entwick­lung über­zeugt sind, werden sie die erfor­der­li­chen poli­ti­schen Maßnah­men akzep­tie­ren und durch ihr Verhal­ten fördern.

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Diese Maßnah­men sollen dazu führen, dass dann – trotz der im Vergleich zu heute dras­tisch geän­der­ten wirt­schaft­li­chen Situa­ti­on – möglichst alle Menschen auf der Erde ein zufrie­de­nes Leben führen können.

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Dass dies keine leich­te poli­ti­sche Aufga­be ist, sieht man sofort ein, wenn man bedenkt, dass schon die von unse­rer Regie­rung als Reak­ti­on auf die aktu­el­le Corona-Pande­mie verhäng­ten mäßi­gen Restrik­tio­nen dazu führ­ten, dass etli­che Mitbür­ger auf die Straße gingen und gegen „diese unzu­läs­si­gen Einschrän­kun­gen unse­rer Grund­rech­te“ demons­trier­ten. Zwar findet man in den Medien heute schon manche Hinwei­se darauf, dass sich etwas ändern muss. Die Radi­ka­li­tät der unver­meid­li­chen Ände­run­gen wird dabei aber meis­tens verschwie­gen (s. Abb. 2). So hatte beispiels­wei­se im Sommer 2020 ein Spie­gel­ar­ti­kel die Über­schrift „So retten wir Umwelt und Wohl­stand“. Dieser Titel sugge­riert, die wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen könn­ten unge­fähr so blei­ben wie sie sind. Erfreu­li­cher­wei­se gibt es aber doch einzel­ne Stim­men, die sich nicht scheu­en, die Proble­ma­tik unse­rer aktu­el­len Situa­ti­on scho­nungs­los offen zu legen. Das Beste, was ich zu diesem Thema in jüngs­ter Zeit gele­sen habe, ist der Arti­kel „Das Jahr, in dem die Norma­li­tät zu Ende ging“ von Bernd Ulrich in der Wochen­zei­tung DIE ZEIT an Weih­nach­ten 2020.

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3. Der notwen­di­ge Wohlstand

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In der Drei­gro­schen­oper von Bertold Brecht gibt es die „Balla­de vom ange­neh­men Leben“, und darin kommt mehr­fach die Fest­stel­lung vor: „Nur wer im Wohl­stand lebt, lebt ange­nehm.“ Davon war auch Ludwig Ehrhard über­zeugt, denn er gab seinem Buch, worin er im Jahr 1957 die Grund­zü­ge seiner Wirt­schafts­po­li­tik darleg­te, den Titel Wohl­stand für Alle. Es wäre unrea­lis­tisch, glei­chen Wohl­stand für Alle zu fordern. Aber in der Drei­gro­schen­oper wird mit Recht gefor­dert: „Erst muss es möglich sein auch armen Leuten, vom großen Brot­laib sich ihr Teil zu schnei­den.“ Das bedeu­tet, dass jeder Mensch in einem Wohl­stand leben soll, der irgend­wo auf der Skala zwischen sehr beschei­den und sehr üppig liegt. Der sehr beschei­de­ne Wohl­stand ist dadurch gekenn­zeich­net, dass alles vorhan­den ist, was man für ein menschen­wür­di­ges Leben braucht, aber nichts darüber hinaus. Für alles, was darüber hinaus geht, gilt, dass man sich zwar freuen kann, wenn man es hat, dass man aber nicht ins Unglück stür­zen würde, wenn man es irgend­wann einmal entbeh­ren müsste.

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Damit alle Menschen in einem – mehr­heit­lich beschei­de­nen – Wohl­stand leben können, müssen drei Voraus­set­zun­gen erfüllt sein:

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Das welt­wei­te BIP darf eine bestimm­te Unter­gren­ze nicht unterschreiten.

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Die Gesamt­zahl der Menschen auf der Erde darf eine bestimm­te Ober­gren­ze nicht überschreiten.

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Das welt­wei­te BIP darf nicht extrem ungleich verteilt werden.

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Vermut­lich ist die erste Voraus­set­zung sehr viel leich­ter zu erfül­len als die beiden ande­ren. Ich sehe nämlich keine Gründe, weshalb irgend­wel­che Menschen ein Inter­es­se daran haben könn­ten, dass das welt­wei­te BIP klein bleibt. Dage­gen gibt es im Falle der beiden ande­ren Voraus­set­zun­gen durch­aus Gründe, weshalb sich manche Menschen bemü­hen zu verhin­dern, dass diese Voraus­set­zun­gen erfüllt werden.

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