Aufbauhilfe Kultur – Dietrich Heißenbüttel

Aufbau­hil­fe Kultur
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Massi­ve staat­li­che Unter­stüt­zun­gen für den Kultur- und Krea­tiv­sek­tor fordert eine Studie von Ernst & Young ange­sichts der Milli­ar­den­ver­lus­te aufgrund der Coro­na­kri­se. Denn Kultur ist nicht nur Frei­zeit­be­schäf­ti­gung. Den Autoren zufol­ge ist sie ein wesent­li­cher Trei­ber des gesell­schaft­li­chen und ökolo­gi­schen Wandels.
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200 Milli­ar­den Euro Einnah­men sind der Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft Euro­pas durch die Coro­na­kri­se verlo­ren gegan­gen: Zu diesem Ergeb­nis gelangt eine Studie der Wirt­schafts­prü­fer Ernst & Young (EY) im Auftrag des euro­päi­schen Dach­ver­bands der Verwer­tungs­ge­sell­schaf­ten GESAC. Das entspricht einem Rück­gang von 31 Prozent im Jahr 2020 gegen­über 2019, wobei die Darstel­len­den Künste mit ‑90 Prozent und die Musik mit ‑76 Prozent am stärks­ten betrof­fen sind und nur Compu­ter­spie­le einen leich­ten Zuwachs verzeich­nen. Kein ande­rer Wirt­schafts­zweig hat solche Einbu­ßen hinneh­men müssen mit Ausnah­me des Luft­ver­kehrs. 7,6 Millio­nen Menschen sind euro­pa­weit in der Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft tätig, drei­mal so viele wie in der Auto­in­dus­trie. Das sind drei Prozent aller Erwerbs­tä­ti­gen, die aber 4,4 Prozent der euro­päi­schen Wirt­schafts­leis­tung erbrach­ten. Zu 90 Prozent handelt es sich um kleine und mitt­le­re Betrie­be, jeder Dritte ist Freiberufler.
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Deutsch­land ist in diesem Bereich mit 1,8 Millio­nen Erwerbs­tä­ti­gen ein Schwer­ge­wicht. Vier Prozent der Erwerbs­tä­ti­gen arbei­ten in der Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft, drei Prozent der Kern­er­werbs­tä­ti­gen, denn zu unge­fähr einem Drit­tel handelt es sich um gering­fü­gig Erwerbs­tä­ti­ge. Nach einer Progno­se des Kompe­tenz­zen­trums Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft – die endgül­ti­gen Daten liegen noch nicht vor – drohen für 2020 im Fall des gravie­ren­de­ren Szena­ri­os, das heißt eines zwei­ten Lock­downs, Umsatz­ein­bu­ßen in Höhe von 39,8 Milli­ar­den Euro. Der Fall ist eingetreten.
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Der Begriff Kultur- und Krea­tiv­wirt­schaft ist weit gefasst. Neben dem Kultur­be­reich zählen dazu auch der umsatz­star­ke Bereich Software/Games, Presse, Privat­rund­funk, Werbung und in Deutsch­land, anders als in der euro­päi­schen Studie, auch das Design. Rund 60.000 zumeist kleine Unter­neh­men arbei­ten in diesem Bereich, mit 275.000 Erwerbs­tä­ti­gen und 153.000 Kern­er­werbs­tä­ti­gen. 122.000 sind gering­fü­gig erwerbs­tä­tig, je zur Hälfte Klein­selb­stän­di­ge und gering­fü­gig Beschäf­tig­te. Die Gesamt­la­ge ist ähnlich komplex: Schau­spie­ler, die nicht fest ange­stellt sind, arbei­ten zumeist mit Zeit­ver­trä­gen. Die meis­ten ande­ren Künst­ler sind Frei­be­ruf­ler, also Mini-Selbständige.
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Alle sind durch die Maßnah­men zur Eindäm­mung des Coro­na­vi­rus in einer Weise in ihrer beruf­li­chen Tätig­keit einge­schränkt, wie es das zuvor noch nie gab. Am schlimms­ten trifft es die vielen Einzel­kämp­fer, die nicht viel einneh­men und wenig besit­zen. „Ein raben­schwar­zes Jahr für die Kultur“, bilan­ziert der Deut­sche Kultur­rat zum Jahres­en­de. Dabei hatten sich Kultur und Kultur­po­li­tik alle Mühe gege­ben, einen weit­ge­hend risi­ko­frei­en Neuan­fang zu ermög­li­chen. Eine Milli­ar­de Euro hat Kultur­staats­mi­nis­te­rin Monika Grüt­ters im Sommer für das Programm Neustart Kultur bereit­ge­stellt, das helfen soll, die Viel­falt der Kultur zu erhal­ten. Eine zweite Milli­ar­de hat die Regie­rung kürz­lich bewil­ligt. Allein 500 Millio­nen Euro sollen bis 2024 zur Aufrüs­tung von Lüftungs­an­la­gen zur Verfü­gung stehen. Viel Krea­ti­vi­tät ist darauf verwen­det worden, digi­ta­le Ange­bo­te, Hygie­ne­kon­zep­te, Veran­stal­tun­gen im Freien und neue Forma­te zu entwi­ckeln, die einen einge­schränk­ten Betrieb wieder ermög­li­chen soll­ten. Dann hieß es erneut: Lockdown.
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Inten­dan­ten und Muse­ums­di­rek­to­rin­nen haben wider­spro­chen: Viel sei in Hygie­ne­maß­nah­men inves­tiert worden, trotz sorg­fäl­ti­ger Aufzeich­nun­gen sei kein einzi­ger Fall von Viren­über­tra­gung bekannt gewor­den. Warum soll­ten Museen ein Infek­ti­ons­herd sein, während Indus­trie­un­ter­neh­men, Banken oder Regie­rungs­prä­si­di­en, wo viel mehr Menschen zusam­men­kom­men, weiter arbei­ten? Weil, so die Logik der Beschlüs­se, Wirt­schaft und Verwal­tung essen­zi­ell notwen­dig sind und nicht einfach ihren Betrieb einstel­len können. Kultur galt dage­gen als Frei­zeit. Dass sich Opern- und Konzert­häu­ser auf diese Weise mit Bordel­len und Spiel­höl­len in eine Reihe gestellt sahen, stieß auf massi­ven Protest. Der Deut­sche Kultur­rat hat erreicht, dass dies geän­dert wurde. „Kunst und Wissen­schaft, Forschung und Lehre sind frei“, steht im Grund­ge­setz. Bei künf­ti­gen Beschlüs­sen muss dies berück­sich­tigt werden. Was das konkret heißt, muss sich erst noch erweisen.
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Derweil haben die meis­ten Künst­ler und Frei­be­ruf­ler alle Hände voll zu tun, um über­haupt über die Runden zu kommen. Es ist anzu­er­ken­nen: Ämter und Minis­te­ri­en haben hart gear­bei­tet, um den drohen­den Total­scha­den aufgrund der Anord­nun­gen abzu­wen­den. Einzel­ne Bundes­län­der wie Baden-Würt­tem­berg haben anfangs schnell und unbü­ro­kra­tisch reagiert. Auf Bundes­ebe­ne soll­ten betrof­fe­ne Künst­ler und Klein­selb­stän­di­ge zunächst nur ihre Kosten ersetzt bekom­men. Doch welche Kosten hat ein Opern­sän­ger oder eine Schau­spie­le­rin? Seit dem zwei­ten Lock­down hat die Bundes­re­gie­rung das Heft in die Hand genom­men. Die Länder halten sich nun vornehm zurück und assis­tie­ren allen­falls mit flan­kie­ren­den Maßnahmen.
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Die Lage bleibt unüber­sicht­lich. Neben Novem­ber- und Dezem­ber­hil­fe gibt es die Über­brü­ckungs­hil­fe III und die Neustart­hil­fe für Solo­selb­stän­di­ge, nicht zu verwech­seln mit dem bereits erwähn­ten Programm Neustart Kultur für die Kultur­ein­rich­tun­gen. Es muss stän­dig nach­ge­bes­sert werden. So sind „unstän­dig Beschäf­tig­te“ wie Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler erst seit Januar Klein­selb­stän­di­gen gleich­ge­stellt. Novem­ber- und Dezem­ber­hil­fe bekommt nur, wer den Betrieb komplett einstel­len oder als indi­rekt Betrof­fe­ner auf 80 Prozent seiner Einnah­men verzich­ten musste. Erstat­tet werden aber nur 75 Prozent der Ausfäl­le. Über­brü­ckungs­hil­fe III gibt es dage­gen schon ab 30 Prozent Umsatz­ein­bu­ßen, immer im Vergleich zum entspre­chen­den Monat 2019. Was aber ist mit Gering­ver­die­nern, deren Einnah­men um weni­ger um als 30 Prozent zurück­ge­gan­gen sind? Für sie kommt nur noch die Grund­si­che­rung (Hartz IV) in Frage. Es gilt ein verein­fach­ter Zugang: Selb­stän­di­ge, die unter gewöhn­li­chen Umstän­den gear­bei­tet hätten, müssen nicht dem Arbeits­markt zur Verfü­gung stehen und ein Vermö­gen bis 60.000 Euro nicht anrech­nen. Das bedeu­tet aber umge­kehrt: Wer mehr besitzt, wird gezwun­gen, seine Rück­la­gen anzuknabbern.
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Künst­ler sind Über­zeu­gungs­tä­ter, die oft nur knapp über die Runden kommen. Viele können nun trotz staat­li­cher Hilfen, die zudem häufig zu spät kommen, ihre Miete nicht mehr bezah­len. „Aus den Verbän­den im Deut­schen Kultur­rat ist oft zu hören, dass sich ihre Mitglie­der beruf­lich neu orien­tie­ren, dass sie resi­gniert haben und sich eine Zukunft im Kultur­be­reich derzeit nicht vorstel­len können“ schrei­ben Olaf Zimmer­mann und Gabrie­le Schulz in der Verbands­zei­tung Poli­tik & Kultur. „Neben den ökono­mi­schen Sorgen, die viele zu diesem Schritt veran­las­sen, weil die Hilfen nicht pass­ge­nau sind oder teils auch gar nicht infra­ge kommen, wird die Perspek­tiv­lo­sig­keit oft als Grund ange­ge­ben. Die Unsi­cher­heit, wann der Kultur­be­trieb wieder hoch­ge­fah­ren wird, ist sehr groß.“
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Zur Unsi­cher­heit trägt auch bei, dass noch völlig unklar ist, wie die Milli­ar­den­pro­gram­me refi­nan­ziert werden sollen. Jahr­zehn­te­lang galt als obers­te Maxime die „schwar­ze Null“. Nun sind nicht Alle gewillt oder in der Lage, dieses Denken von einem Tag auf den ande­ren ad acta zu legen. Gefahr droht daher von ganz ande­rer Seite: Kommu­nen als wich­tigs­te Träger der Kultur­ein­rich­tun­gen könn­ten, wie verein­zelt bereits ange­kün­digt, die Haus­halts­dis­zi­plin über die „frei­wil­li­ge Aufga­be“ Kultur stel­len – auch wenn sich hier nicht viel sparen lässt, denn auf Kultur entfällt in der Regel kaum mehr als ein Prozent des Haus­halts. Würde sich diese Heran­ge­hens­wei­se durch­set­zen, wäre das für die Kultur ein Total­scha­den. Jedem achten Museum welt­weit droht im Moment der EY-Studie zufol­ge die endgül­ti­ge Schließung. – - -
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