Woodstock des Degrowth – Andreas Bangemann
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Ein Konferenzbericht
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Von 15. bis 17. Mai 2023 fand auf Einladung vieler Europaparlamentarier die Konferenz „Beyond Growth“ in Brüssel statt. Treibende Kraft war Philippe Lamberts aus Belgien. Er ist Vorsitzender der GRÜNEN-Fraktion. Es gelang ihm, gemeinsam mit 20 weiteren Abgeordneten des Europaparlaments die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola für die Durchführung der Veranstaltung im Herzen der europäischen Demokratie zu gewinnen. 160 Sprecherinnen und Sprecher wurden aufgeboten.
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In ihrer Eröffnungsansprache im imposanten Hemicycle, dem Plenarsaal des Europaparlaments, sagte Roberta Metsola: „Es kommt nicht oft vor, dass so viele junge Leute in diesem Raum sind.“ Sie erzählte von ihren eigenen Anfängen, wie sie 2013, damals 34-jährig, als Abgeordnete der maltesischen christlich-konservativen „Partid Nazzjonalista“ in Brüssel einzog. Sie ermutigte in ihrer Rede die Anwesenden, die Potenziale von Demokratie zu erkennen und das Versprechen und die Hoffnung eines geeinten Europas zu verspüren. Man solle die drei Tage nutzen für das Knüpfen von Beziehungen, neuen Freundschaften, und die gewonnenen Erinnerungen dafür einsetzen, um Europa zu einem besseren Ort zu machen.
Dass dieser Geist von Beginn an die Stimmung während der Konferenz prägte, sollte sich im weiteren Verlauf beweisen. Erwartungsgemäß war die Veranstaltung bestens organisiert und die Teilnehmenden durchliefen zum Erreichen der vielen Veranstaltungsorte den gesamten Gebäudekomplex, der einem beim ersten Besuch erhebliches Orientierungsvermögen abverlangt. Ein Hinweis von Philippe Lamberts war hilfreich. „Wenn Sie sich verlaufen haben, gehen Sie in die 3. Etage. Dort sind alle Gebäude miteinander verbunden.“
Verbundenheit war auch auf besondere Weise bei dieser Konferenz allgegenwärtig. Mit jedem Panel und den dabei sich entwickelnden Diskussionen, die durch modernste Technik unterstützt wurden, zeigte sich eine zunehmende Einigkeit unter den Teilnehmenden aus allen Ländern Europas. In Umfragen, an denen auch mehrere tausend der Veranstaltung online Zugeschaltete teilnahmen, wurde ein klarer Trend deutlich: Mit „Beyond Growth“ will man sich endgültig vom Wachstumsdiktum verabschieden, welches noch immer maßgeblich die politischen Agenden der Welt beherrscht. Ein unmissverständliches Bekenntnis zu einer vom Wachstum befreiten Wirtschaft formte die Stimmung. Weder grün soll es sein noch irgendein Post-Growth, mit dem man ein wie auch immer geartetes weitergehendes Wachstum verbinden könnte. „Beyond“, jenseits des Wachstums sollte gemäß der Anwesenden eine Wirtschaft sein, die sich kleiner machen und die ökologische Gesamtlage entspannen kann, statt sie weiter zu beschädigen. Der Wille zur Befreiung aus dem bestehenden System war spürbar. Wie lässt sich die Wirtschaft der Zukunft ohne Wachstum gestalten? Das Gedeihen des sozialen Zusammenhalts muss dabei in Einklang mit der Berücksichtigung der ökologischen Grenzen des Planeten gebracht werden? Eine Mammutaufgabe, der sich die Teilnehmenden, sowohl im Publikum als auch auf den Podien, bewusst waren.
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Wachstum ist obsolet?
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Als Ursula von der Leyen in ihrer Eröffnungsansprache den rund 2.500 jungen Leuten zurief: „Ein Wachstumsmodell, dass sich auf fossile Brennstoffe stützt, ist obsolet.“, brandete ein erster Beifall auf. Sofort kursierten auf Twitter und in diversen Nachrichtentickern Meldungen wie „Ursula von der Leyen erklärt auf Wirtschaftswachstum ausgerichtete Politik für beendet“. Da war eher die Hoffnung die Mutter des Gedankens. Beim Reflektieren des Gesagten wurde klar, dass darin mindestens zwei „Pferdefüße“ steckten. Nur ein bestimmtes Wachstum sprach die taktisch geschickte Politikerin an und das Wörtchen „obsolet“ lässt Spielraum für eine gewisse Zeit, in der es nicht anders geht, als weiterzumachen wie bisher.
Christlich-konservative Politik in Europa ist geprägt vom Festhalten an Wirtschaftswachstum. Das schlägt sich im Handeln, aber auch in den Plänen für eine Zukunft nieder, in der die Nachhaltigkeit und der Klimaschutz maßgebliche Leitplanken bilden sollten. In den 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen verankerte man im Punkt 8 „Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle“. Damit wird jeglichem Ansinnen, eine Wirtschaft „jenseits“ (beyond) des Wachstums zu konzipieren, erst einmal der Wind aus den Segeln genommen.
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Diese Nichtübereinstimmung war in Brüssel zu spüren, als die Teilnehmenden in Panels, bei denen Redner versuchten, grünes Wachstum als erstrebenswertes Ziel anzupreisen, entweder mit verhaltenem Applaus versehen wurden oder überdies mit eindeutigen Unmutsäußerungen konfrontiert waren. Letzteres widerfuhr beispielsweise Paolo Gentiloni, dem italienischen EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung sowie Steuern und Zollunion, bei seiner Rede.
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Die Teilnehmenden nahmen im Gebäude des Europaparlaments in der Brüsseler Rue Wirtz 60 die normalerweise für die Parlamentsabgeordneten vorgesehenen Plätze ein. Mit jedem weiteren Vortrag, jedem Gang durch das Parlamentsgebäude verstärkte sich das Gefühl, an einem historisch zu nennenden Ereignis teilzunehmen. Ausdruck fand das in einem alternativen Namen, der aus den Teilnehmerinnen und Teilnehmern heraus auftauchte und im weiteren Verlauf von Vortragenden und Politikerinnen aufgegriffen wurde: „Woodstock des Degrowth“. 1969 trafen sich Jugendliche auf einem Acker in den USA. Ein Unwetter verwandelte das Gelände in ein Schlammloch und das gemeinsame darin Vereintsein schweißte die Besucherinnen und Besucher zusammen. Die 70er-Jahre wurden nicht nur hinsichtlich der Musik davon maßgeblich geprägt. Auch ein neues Lebensgefühl entstand. Mit Freizügigkeit im Persönlichen wollte man die Enge von Krieg, Entbehrung und seinen unmenschlichen Begleiterscheinungen hinter sich lassen.
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Ein vorher nicht planbares Gemeinschaftsgefühl entfaltete sich auch in Brüssel. Das Unwetter war dabei nicht leibhaftig, sondern in Form des Klimawandels und der Umweltzerstörung präsent, wie es derzeit alle Menschen auf der Erde bedroht. Mit jedem Vortrag wuchs merklich auch das Selbstbewusstsein der geladenen Expertinnen und Experten, deren Ansichten und Forschungsergebnisse als radikal bezeichnet werden können, weil sie damit Hand an die Wurzeln des herrschenden Systems anlegen. Hätten die Anwesenden, vergleichbar den Parlamentariern, während der Konferenz Entscheidungen treffen können, dann wären diese Erlasse oder Gesetze dazu geeignet, das bestehende Wirtschaftssystem auf vollkommen andere Beine zu stellen.
– - – Eine Wirtschaft, die menschlichen Bedürfnissen gerecht wird
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Am Eröffnungstag im Plenum mit Ursula von der Leyen war auch Jason Hickel, Professor an der Universität von Barcelona, mit einem Vortrag vertreten. Er eröffnete im Grunde den Reigen der kritischen Wissenschaftler der Veranstaltung, die von Beginn an dem „Green Deal“ der EU den von Politkern vorhergesagten Erfolg absprach. Die EU könne ihre Klimaziele des Pariser Abkommens unmöglich einhalten, wenn auch einzelne Länder wie die Niederlande und Dänemark auf einem guten Weg seien. Es drohten mehrere große Kipppunkte im Erdsystem ausgelöst zu werden, die ein Anpassen der Menschen an die damit verbundene Erderwärmung unmöglich machten. Am Green Deal gäbe es nichts Grünes. „Das ist ein Rezept für die Katastrophe. Es sind viel schnellere Abhilfemaßnahmen erforderlich!“, sagte Jason Hickel wörtlich. Das ständige Streben nach kapitalistischem Wachstum der EU und anderen Ländern mit hohen Einkommen beruhe auf einer fortwährenden Ausplünderung von Waren, Ressourcen und Arbeitskräften aus dem globalen Süden.
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Ein Konferenzbericht
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Von 15. bis 17. Mai 2023 fand auf Einladung vieler Europaparlamentarier die Konferenz „Beyond Growth“ in Brüssel statt. Treibende Kraft war Philippe Lamberts aus Belgien. Er ist Vorsitzender der GRÜNEN-Fraktion. Es gelang ihm, gemeinsam mit 20 weiteren Abgeordneten des Europaparlaments die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola für die Durchführung der Veranstaltung im Herzen der europäischen Demokratie zu gewinnen. 160 Sprecherinnen und Sprecher wurden aufgeboten.
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In ihrer Eröffnungsansprache im imposanten Hemicycle, dem Plenarsaal des Europaparlaments, sagte Roberta Metsola: „Es kommt nicht oft vor, dass so viele junge Leute in diesem Raum sind.“ Sie erzählte von ihren eigenen Anfängen, wie sie 2013, damals 34-jährig, als Abgeordnete der maltesischen christlich-konservativen „Partid Nazzjonalista“ in Brüssel einzog. Sie ermutigte in ihrer Rede die Anwesenden, die Potenziale von Demokratie zu erkennen und das Versprechen und die Hoffnung eines geeinten Europas zu verspüren. Man solle die drei Tage nutzen für das Knüpfen von Beziehungen, neuen Freundschaften, und die gewonnenen Erinnerungen dafür einsetzen, um Europa zu einem besseren Ort zu machen.
Dass dieser Geist von Beginn an die Stimmung während der Konferenz prägte, sollte sich im weiteren Verlauf beweisen. Erwartungsgemäß war die Veranstaltung bestens organisiert und die Teilnehmenden durchliefen zum Erreichen der vielen Veranstaltungsorte den gesamten Gebäudekomplex, der einem beim ersten Besuch erhebliches Orientierungsvermögen abverlangt. Ein Hinweis von Philippe Lamberts war hilfreich. „Wenn Sie sich verlaufen haben, gehen Sie in die 3. Etage. Dort sind alle Gebäude miteinander verbunden.“
Verbundenheit war auch auf besondere Weise bei dieser Konferenz allgegenwärtig. Mit jedem Panel und den dabei sich entwickelnden Diskussionen, die durch modernste Technik unterstützt wurden, zeigte sich eine zunehmende Einigkeit unter den Teilnehmenden aus allen Ländern Europas. In Umfragen, an denen auch mehrere tausend der Veranstaltung online Zugeschaltete teilnahmen, wurde ein klarer Trend deutlich: Mit „Beyond Growth“ will man sich endgültig vom Wachstumsdiktum verabschieden, welches noch immer maßgeblich die politischen Agenden der Welt beherrscht. Ein unmissverständliches Bekenntnis zu einer vom Wachstum befreiten Wirtschaft formte die Stimmung. Weder grün soll es sein noch irgendein Post-Growth, mit dem man ein wie auch immer geartetes weitergehendes Wachstum verbinden könnte. „Beyond“, jenseits des Wachstums sollte gemäß der Anwesenden eine Wirtschaft sein, die sich kleiner machen und die ökologische Gesamtlage entspannen kann, statt sie weiter zu beschädigen. Der Wille zur Befreiung aus dem bestehenden System war spürbar. Wie lässt sich die Wirtschaft der Zukunft ohne Wachstum gestalten? Das Gedeihen des sozialen Zusammenhalts muss dabei in Einklang mit der Berücksichtigung der ökologischen Grenzen des Planeten gebracht werden? Eine Mammutaufgabe, der sich die Teilnehmenden, sowohl im Publikum als auch auf den Podien, bewusst waren.
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Wachstum ist obsolet?
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Als Ursula von der Leyen in ihrer Eröffnungsansprache den rund 2.500 jungen Leuten zurief: „Ein Wachstumsmodell, dass sich auf fossile Brennstoffe stützt, ist obsolet.“, brandete ein erster Beifall auf. Sofort kursierten auf Twitter und in diversen Nachrichtentickern Meldungen wie „Ursula von der Leyen erklärt auf Wirtschaftswachstum ausgerichtete Politik für beendet“. Da war eher die Hoffnung die Mutter des Gedankens. Beim Reflektieren des Gesagten wurde klar, dass darin mindestens zwei „Pferdefüße“ steckten. Nur ein bestimmtes Wachstum sprach die taktisch geschickte Politikerin an und das Wörtchen „obsolet“ lässt Spielraum für eine gewisse Zeit, in der es nicht anders geht, als weiterzumachen wie bisher.
Christlich-konservative Politik in Europa ist geprägt vom Festhalten an Wirtschaftswachstum. Das schlägt sich im Handeln, aber auch in den Plänen für eine Zukunft nieder, in der die Nachhaltigkeit und der Klimaschutz maßgebliche Leitplanken bilden sollten. In den 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen verankerte man im Punkt 8 „Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle“. Damit wird jeglichem Ansinnen, eine Wirtschaft „jenseits“ (beyond) des Wachstums zu konzipieren, erst einmal der Wind aus den Segeln genommen.
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Diese Nichtübereinstimmung war in Brüssel zu spüren, als die Teilnehmenden in Panels, bei denen Redner versuchten, grünes Wachstum als erstrebenswertes Ziel anzupreisen, entweder mit verhaltenem Applaus versehen wurden oder überdies mit eindeutigen Unmutsäußerungen konfrontiert waren. Letzteres widerfuhr beispielsweise Paolo Gentiloni, dem italienischen EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung sowie Steuern und Zollunion, bei seiner Rede.
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Die Teilnehmenden nahmen im Gebäude des Europaparlaments in der Brüsseler Rue Wirtz 60 die normalerweise für die Parlamentsabgeordneten vorgesehenen Plätze ein. Mit jedem weiteren Vortrag, jedem Gang durch das Parlamentsgebäude verstärkte sich das Gefühl, an einem historisch zu nennenden Ereignis teilzunehmen. Ausdruck fand das in einem alternativen Namen, der aus den Teilnehmerinnen und Teilnehmern heraus auftauchte und im weiteren Verlauf von Vortragenden und Politikerinnen aufgegriffen wurde: „Woodstock des Degrowth“. 1969 trafen sich Jugendliche auf einem Acker in den USA. Ein Unwetter verwandelte das Gelände in ein Schlammloch und das gemeinsame darin Vereintsein schweißte die Besucherinnen und Besucher zusammen. Die 70er-Jahre wurden nicht nur hinsichtlich der Musik davon maßgeblich geprägt. Auch ein neues Lebensgefühl entstand. Mit Freizügigkeit im Persönlichen wollte man die Enge von Krieg, Entbehrung und seinen unmenschlichen Begleiterscheinungen hinter sich lassen.
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Ein vorher nicht planbares Gemeinschaftsgefühl entfaltete sich auch in Brüssel. Das Unwetter war dabei nicht leibhaftig, sondern in Form des Klimawandels und der Umweltzerstörung präsent, wie es derzeit alle Menschen auf der Erde bedroht. Mit jedem Vortrag wuchs merklich auch das Selbstbewusstsein der geladenen Expertinnen und Experten, deren Ansichten und Forschungsergebnisse als radikal bezeichnet werden können, weil sie damit Hand an die Wurzeln des herrschenden Systems anlegen. Hätten die Anwesenden, vergleichbar den Parlamentariern, während der Konferenz Entscheidungen treffen können, dann wären diese Erlasse oder Gesetze dazu geeignet, das bestehende Wirtschaftssystem auf vollkommen andere Beine zu stellen.
– - – Eine Wirtschaft, die menschlichen Bedürfnissen gerecht wird
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Am Eröffnungstag im Plenum mit Ursula von der Leyen war auch Jason Hickel, Professor an der Universität von Barcelona, mit einem Vortrag vertreten. Er eröffnete im Grunde den Reigen der kritischen Wissenschaftler der Veranstaltung, die von Beginn an dem „Green Deal“ der EU den von Politkern vorhergesagten Erfolg absprach. Die EU könne ihre Klimaziele des Pariser Abkommens unmöglich einhalten, wenn auch einzelne Länder wie die Niederlande und Dänemark auf einem guten Weg seien. Es drohten mehrere große Kipppunkte im Erdsystem ausgelöst zu werden, die ein Anpassen der Menschen an die damit verbundene Erderwärmung unmöglich machten. Am Green Deal gäbe es nichts Grünes. „Das ist ein Rezept für die Katastrophe. Es sind viel schnellere Abhilfemaßnahmen erforderlich!“, sagte Jason Hickel wörtlich. Das ständige Streben nach kapitalistischem Wachstum der EU und anderen Ländern mit hohen Einkommen beruhe auf einer fortwährenden Ausplünderung von Waren, Ressourcen und Arbeitskräften aus dem globalen Süden.
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