Wie schlimm ist die Zinsrampe? – Dezernat Zukunft, Berlin
Philippa Sigl-Glöckner, Leo Mühlenweg, Max Krahé — Dezernat Zukunft, Berlin
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In den letzten Wochen verwies der Finanzminister gerne darauf, dass sich die Zinsausgaben seit 2021 verzehnfacht hätten. Unterlegt wurde die Botschaft in den sozialen Medien mit einem furchteinflößenden Chart. In diesem Geldbrief – eine Kollaboration von Dezernat Zukunft mit FiscalFuture – diskutieren wir, was dieser Chart für die Finanzpolitik bedeutet und stoßen auf einen special effect der staatlichen Buchhaltung.
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Buchhaltungsmagie
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Durch die Zinserhöhungen der EZB erhöhen sich auch die Finanzierungskosten von Staatsschulden. Die Renditen auf deutsche 10-jährige Staatsanleihen sind beispielsweise von – 0,31 % im Jahr 2021 auf zuletzt 2,62 % gestiegen. Für eine Verzehnfachung der Zinskosten reicht dies allerdings nicht aus. Die durchschnittliche Laufzeit aller ausstehenden Bundesanleihen ist knapp sieben Jahre, sodass pro Jahr nur grob 14% der Bundesschuld zu den nun höheren Zinsen refinanziert werden muss. 86 % der Bundesschuld bleibt also zunächst vom Anstieg unberührt.
Wie kann das Bundesfinanzministerium trotzdem eine Verzehnfachung ausweisen? Zentral dafür ist eine umstrittene Buchungsregel. Um diese zu verstehen, muss man sich die Zahlungsströme ansehen, die mit dem Staatsanleihengeschäft einhergehen.
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Gibt der Staat eine Staatsanleihe zum Nennwert von 100 Euro aus, bekommt er in den seltensten Fällen vom Käufer genau 100 Euro dafür. Ist der Zins der Anleihe höher als der Marktzins, zahlt der Käufer gerne mehr, um sich die verhältnismäßig hohe Verzinsung zu sichern. Dies war in den letzten Jahren häufig der Fall. So bekam der Bund zuletzt für die Aufstockung einer 30-jährigen Staatsanleihe mit einem Zinskupon von 4,25 % einen durchschnittlichen Preis von 119 Euro gezahlt. Der Staat bekam also einen Aufschlag dafür, dass der Kunde eine Wertanlage mit so guter Verzinsung erhält. Dieser Aufschlag nennt sich Agio. Gibt der Staat andererseits Anleihen mit besonders niedriger Verzinsung aus, zahlen die Käufer oft weniger als den Nennwert. Man spricht in diesem Fall von einem Disagio.
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Die Frage ist nun, wie man Agien und Disagien richtig verbucht. Die Bundesregierung hat sich dafür entschieden, alle daraus entstehenden Mehr- oder Mindereinnahmen im Ausgabejahr der Anleihe zu verbuchen. Das macht die Ausgabe von Anleihen mit hohen Agio-Einnahmen (und entsprechend hohen Zinsen) für den Staat attraktiv. Das Agio kann man sich heute voll gutschreiben, während die höheren Zinskosten erst in der Zukunft gezahlt werden müssen. Andersherum ist es nachteilig, heute Anleihen mit niedrigem Zins auszugeben, da man das entstehende Disagio voll im Entstehungsjahr anrechnen muss, aber erst zukünftige Regierungen von den niedrigen Zinsen profitieren.
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2020 und 2021 wurden besonders viele Agien gezahlt, da die EZB den Zins 2019 unter null abgesenkt hatte. Weil erwartet wurde, dass die Leitzinsen noch lange niedrig bleiben würden („low for long“), fiel auch die Rendite der Staatsanleihen ins Negative. Da der Staat keine Anleihen mit negativen Zinsen emittiert und zusätzlich Anleihen mit höheren Zinsen aufgestockt oder aus dem Eigenbestand verkauft wurden, waren Käufer häufig bereit, einen hohen Aufschlag zu zahlen.
2023 ist voraussichtlich das Gegenteil der Fall: Es werden hohe Disagien projiziert. Stockt der Staat aktuell Anleihen mit niedrigen Zinsen auf, sind Käufer nur noch zu einem deutlich niedrigeren Preis bereit, diese zu kaufen, da sie höher verzinste Alternativen haben. Eine im August 2019 neuemittierte 30-jährige Anleihe mit einem Zins von Null wird beispielsweise aktuell zu einem Kurs von 50,4 gehandelt. Diese Anleihe wird am 15.03.2023 im Wert von einer Milliarde Euro aufgestockt. Bleibt der Kurs bei 50,4, bedeutet dies, dass der der Staat lediglich 504 Millionen Euro für die Anleihen mit einem Nennwert von einer Milliarde erhält. Er hat folglich Disagio-Kosten in Höhe von 496 Millionen Euro.
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Diese Kosten werden im Bundeshaushalt vollständig als Zinskosten des Jahres 2023 verbucht. Würde man die Zinskosten andererseits gleichmäßig über die Laufzeit der Anleihe verteilen, wären die Disagio-Kosten dieser Aufstockung im Jahr 2023 lediglich ca. 18 Millionen Euro. Die beeindruckende Verzehnfachung der Zinszahlungen ist zu erheblichen Teilen ein Buchungsartefakt.
Verbucht man die Disagio-Kosten periodengerecht, bzw. verteilt man die Disagio-Kosten gleichmäßig über die Laufzeit der Anleihe, ergibt sich ein anderes Bild als das von Finanzminister Lindner gezeichnete. Eurostat weist diese Zahlen für den Gesamtstaat aus, sprich Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen zusammen (s. Abbildung 3). Die Zinsausgaben steigen auch in dieser Buchungsmethode. Jedoch handelt es sich nun um einen Anstieg von 21 Mrd. Euro im Jahr 2021 (1,1 % aller gesamtstaatlichen Ausgaben) auf 28 Mrd. Euro im Jahr 2023 (1,4 %), sprich ein Wachstum von 36 %. Die explosionsartige Verzehnfachung von knapp 4 Mrd. Euro auf 40 Mrd. Euro, die von Finanzminister Lindner ausgewiesen wurde, erweist sich also weitgehend als Artefakt der bundesdeutschen Buchungsregeln.
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