Wenn nichts fließt – Teil 2 – Von Paul Peter Pospischil (ppp)
Was am 23. März 2021 wirklich geschah
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Hinweis: Eine auf Tatsachen beruhende Geschichte, die Fiktionen enthält. Das Zusammenspiel von Fakten und Ausgedachtem ist rein zufällig und künstlerischer Freiheit geschuldet. Namen, Orte und Zeiten können fiktiv sein.
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„Ich fühle mich schuldig. Ich hätte mich besser um ihn kümmern müssen.“ Mohsen war noch immer tief bestürzt über Hinrichs Tod. „Hinrich berichtete häufig von derlei Aufträgen, aber, dass es einmal lebensgefährlich für ihn werden könnte, damit habe ich nicht gerechnet.“ „Sayyid Mohsen, Sie reden, als ob sie sicher wären, dass er ermordet wurde. Die Behörden sprechen von Lungenversagen. Könnte es nicht auch COVID-19 gewesen sein?“ „Was das angeht, gibt es politisch motivierte Anweisungen. Inoffiziell natürlich. Man will die Zahl der Corona-Infektionen geringhalten, damit der Tourismus nicht gefährdet wird. Muhammad versicherte, dass er bei Hinrich keinerlei Anzeichen für eine Krankheit oder schwerwiegenderes erkannte. Er wurde ermordet. Dessen bin ich mir sicher“, bekräftigte Mohsen Sherin. „Und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich die Schuldigen finden werde. Das ist das Mindeste, was ich für meinen Freund tun kann. Wirst Du mir dabei helfen? Und bitte nenne mich nur Mohsen“. Sherin zögerte zunächst, weil sie nicht wusste, ob sie gegenüber Mohsen frei über ihre Gefühle für Hinrich sprechen konnte. „Ja, sayy.., äh Mohsen“, antwortete sie selbstbewusst, „Du kannst auf mich zählen.“
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„Zunächst musst Du mir alles erzählen, woran Du Dich erinnerst. Jedes kleinste Detail ist von Bedeutung.“ „Seit gestern das Schiff wieder freigelegt werden konnte, verschwinden die Neugierigen und Journalisten. Im Laden meines Onkels gibt es weniger zu tun und ich werde ihn fragen, ob er auf mich verzichten kann. Dann stehe ich Dir für alles Weitere zur Verfügung.“, bekräftigte Sherin. „Mach Dir keine Sorgen wegen Deines Verdienstes. Du arbeitest jetzt für mich. Ich brauche Dein Wissen in Wirtschaftsfragen, denn ich weiß, welche Rolle das bei Hinrichs Arbeit spielte.“
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Hinrichs Unterlagen waren umfangreicher, als sie dachte. Eine Unmenge handgeschriebener Texte in verschiedenfarbigen Notizbüchern. Seine Handschrift war schön. Sie ergab ein Schriftbild, das durch seine Linienführung einen Hauch arabisch wirkte. Das machte es für Sherin zwar nicht lesbar, aber es erleichterte ihre weitere Arbeit. Verfügbare App-gestützte Schrifterkennungen waren mittlerweile weit genug gediehen, um auch Handschriften zu scannen und zu übersetzen. Sie erhielt von Mohsen ein aktuelles Smartphone-Modell und er bat sie, dieses ausschließlich für die Nachforschungen zu nutzen.
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Auf einem von Hinrichs Büchern mit schwarzem Einband war die Zahl 23 von Hand eingekerbt. Sherin erkannte anhand von Daten und mit wenigen Strichen angefertigten Zeichnungen darin, dass es ich um die Ereignisse im Zusammenhang mit der Schiffshavarie handeln musste. Sie fand aber auch das Manuskript eines Essays. Offensichtlich war es noch nicht veröffentlicht, obwohl es ihr so erschien, dass es bereits vor seinem Aufenthalt in Ägypten entstanden sein könnte. Denkbar war jedoch auch, dass er es während seiner letzten Lebenstage fertigstellte. Sie fand es großartig. Sie entdeckte darin Erklärungen für Phänomene, die sie während ihres Studiums ständig nachdenklich machten, weil die an den Universitäten gelehrten Wirtschaftswissenschaften auszuklammern schienen, welche langfristigen Folgen sich in der Realität ergaben.
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Während eines Praxissemesters lernte sie die SEKEM-Farm unweit von Kairo kennen und gewann Einblick in ein Unternehmen, das bereits auf nachhaltige Entwicklungen setzte, als man dem weder in Europa und erst recht nicht in Afrika maßgebliche Relevanz beimaß. Sie lernte den Sohn des Gründers, Helmy Abouleish, kennen und sie entwickelte ein Gespür dafür, wie diese alternative Art des Wirtschaftens sich wie ein Gegenentwurf zur herrschenden Lehre anfühlte. Trotz des Zwangs, hauszuhalten und Einnahmen und Ausgaben im Blick zu behalten, wurde ihr klar, worin ein entscheidender Unterschied lag: Es ging bei SEKEM nicht um die Maximierung von Profiten, sondern um eine Entwicklung, die das Ganze im Blick hatte. Mensch, Umwelt, Sozialwesen und ihr wechselseitig förderliches Miteinander. Was sich ihr nicht erschloss, war die Tatsache, weshalb man sich mit dieser dermaßen einleuchtend gemeinschaftsfördernden Art des Wirtschaftens überaus schwertat. Warum sich derlei in einer Art Spielecke ökonomischer Realität befand, die bewundert, aber nicht auf eine Weise ernstgenommen wurde, die sie in eine Vorbildfunktion brachte.
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Hinrichs Aufsatz trug dazu bei, dass sich ihr eine Erklärung zu erschließen begann. Neben dem Drang zur Aufklärung seines Todes, spürte sie, wie ein neues Kapitel in ihrem Leben aufgeschlagen werden und sie eine Reise fortsetzen könnte, die mit der Entscheidung für ein Wirtschaftsstudium begann.
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Sie überlegte, was sie tun könnte, damit dieser Aufsatz von Hinrich veröffentlicht werden würde. Mit Hilfe eines KI-basierten Online-Übersetzungsprogramms und etwas Unterstützung Ihrer Freundin und ehemaligen Kommilitonin, Naïla, übersetzte sie das Essay ins Arabische. Naïla arbeitete für eine deutsche Großbank in deren Kairoer Büro. Sie sprach mittlerweile perfekt Deutsch. Sherin war überzeugt, dass im Aufsatz Hinweise zu entdecken seien, die bei der Suche nach Hinrichs Mördern helfen könnte.
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