Solidarität definieren – Buchrezension von Dietrich Heißenbüttel
Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Wenn die aktuelle kapitalistische Wirtschaftsform zu wachsender Ungleichheit, globalen Verwerfungen, Krisen und Umweltkatastrophen führt, stellt sich die Frage nach Alternativen. Allerdings nützt die schönste Theorie wenig, wenn ein Hebel fehlt, einen Wandel in Gang zu setzen. Es bleibt vorerst dabei, dass auch diejenigen, die nach alternativen Ansätzen suchen, sich den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen nicht gänzlich entziehen können. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich unter den gegebenen Rahmenbedingungen eine Nische zu suchen, in der sie eine entgegengesetzte Praxis ins Werk setzen können. Kritisch betrachtet, könnte man sagen, dass dies an den Verhältnissen insgesamt nur wenig ändert. Umgekehrt hat der Versuch im Kleinen, wenn er gelingt, den unwiderstehlichen Charme, den Beweis zu liefern, dass es eben doch anders geht
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Das vorliegende Buch, das auf einem Seminar an der Humboldt-Universität beruht, untersucht fünf Akteure des alternativen Wirtschaftens in Berlin, einer Stadt, die mit ihren vielen Künstlern, gegenkulturellen Traditionen und der bunten Vielfalt von Menschen aus West, Ost und Süd immer wieder neue Formen des Zusammenlebens hervorbringt. Organisiert sind diese Akteure als offenes Netzwerk, als Kollektiv mit einem weiteren Kreis freier Mitarbeiter, als Verein, GmbH oder schlicht als offenes Angebot. Bei gerade mal 140 Seiten bietet das Bändchen eine sehr dichte Beschreibung der Problematik. Die Seminarteilnehmer hatten die Aufgabe, ihren jeweiligen Fall nicht nur zu beschreiben, sondern auch mit theoretischen Ansätzen in Verbindung zu setzen, deren es viele gibt, denn was solidarische Ökonomie sei, auf diese Frage gibt es mehr als eine Antwort. Sebastian Ronge destilliert daraus auf nicht mehr als 18 Seiten einen theoretischen Rahmen, um in diesem vielgestaltigen und wandelbaren Feld einen Überblick zu gewinnen.
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Solidarische Ökonomie: schon im Titel artikuliert sich ein Widerspruch. Seit Adam Smith gilt das Gewinnstreben des Einzelnen als eigentlicher Antrieb aller Wirtschaftstätigkeit. Smiths Hoffnung war, dass dieser Eigennutz zugleich dem Gemeinwohl nützen möge, eine Annahme, die heute auf der einen Seite wie ein Naturgesetz angesehen wird, auf der anderen eigentlich als widerlegt gelten kann. Solidarität zielt dagegen auf den Gruppenzusammenhalt, auf den Schulterschluss mit anderen, auch länderübergreifenden Solidargemeinschaften und auf ethische Prinzipien. Der Begriff der Solidarität verbindet sich zunächst mit der Arbeiterbewegung, der es um die Durchsetzung von Rechten innerhalb eines Lohnsystems ging. Solidarische Ökonomie setzt sich dagegen entweder dem Prinzip des Gewinnstrebens entgegen oder versucht es mit anderen, ethischen Kriterien in Einklang zu bringen. Dies ist kein Widerspruch zum Begriff der Ökonomie an sich, der ursprünglich nichts anderes als das Haushalten mit den vorhandenen Ressourcen bezeichnet. Es setzt aber einen höheren Aufwand an Diskussionen voraus als das simple Prinzip des Gewinnstrebens. Dies zeigt sich an allen fünf Fallbeispielen.
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Freifunk
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Freifunk-Netzwerke gibt es mittlerweile in vielen Städten. Sich über W‑LAN-Router miteinander zu vernetzen, ist, wie Juliane Rettschlag feststellt, ein Weg des Empowerments. „Das world wide web wird Freifunk sicherlich kaum je ersetzen“, schreibt sie, allerdings „stellen Freifunk-Netze ein Gegengewicht zum Massenkommunikationsmittel des Internet dar.“ Indem sie kostenlosen Zugang bieten, unterlaufen sie die Tendenz, die Offenheit der Wissensgesellschaft in einen gewinnbasierten kognitiven Kapitalismus zu verwandeln. Freifunk ist ein Medium der „E‑democracy“, der Vernetzung von unten. Die Autorin hat selbst da-ran mitgewirkt, den Geflüchteten in einer Unterkunft, die nicht ans Internet angeschlossen war, durch Freifunk-Zugang beim Kontakt mit Familie und Freunden und beim Spracherwerb zu helfen. Das Prinzip des Freifunks besteht darin, dass niemand damit Geld verdient. Dennoch gehört Freifunk in den Bereich der solidarischen Ökonomie, die auf Austausch, Gerechtigkeit und kostenlosem Zugang basiert.
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://about blank
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Der zweite Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie sich bei einem erfolgreichen Betrieb solidarische Ökonomie mit Wachstum verbinden lässt. Der Club „://about blank“ am S‑Bahnhof Ostkreuz ist nach Auskunft der Autorinnen Lea-Riccarda Prix und Johanna Müller einer der größten Kollektivbetriebe Berlins. Von elf Personen 2010 gegründet, ist die angesagte Location inzwischen bei einem Kreis von 120 Mitarbeitern angekommen, die freilich nicht alle in Vollzeit arbeiten. Dies bedingt ein Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis, das wiederum zwingend erfordert, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Solidarität beschaffen sein kann. Dass alle Beteiligten gemeinsam Entscheidungen treffen, ist bei über 100 Personen weder möglich noch von allen gewünscht. Der elfköpfige Kern genehmigt sich allerdings keine Privilegien: Grundsätzlich verdienen alle gleich viel. Jeder kann seine Arbeitszeit selbst festlegen und sich über regelmäßig stattfindende Versammlungen einbringen. Zudem versucht der Club, durch die Wahl der Lieferanten und moderate Preise auch nach außen solidarisch zu handeln.
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FairBindung
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Der Verein FairBindung geht noch einen Schritt weiter, indem er nach globaler Solidarität und Gerechtigkeit fragt. Hervorgegangen aus einer studentischen Initiative und einem Austausch mit einer Schule in Guatemala, bleibt Bildungsarbeit neben Kaffeeimport einer der Pfeiler der Arbeit. Formell ein Verein, versteht sich die sechzehnköpfige Gruppe auch gemäß ihren Statuten als gleichberechtigtes Kollektiv. Die Mitglieder sind aber häufig auch anderweitig aktiv und in unterschiedlichem Maß angestellt oder ehrenamtlich tätig. Ein vollkommen gleichberechtigtes Verhältnis mit Akteuren in Guatemala ist nach ihren Beobachtungen nicht möglich. Aber das Verhältnis von Geben und Nehmen ist nicht einseitig bestimmt, da der Verein auf die reichen Erfahrungen auf dem Gebiet der solidarischen Ökonomie in Lateinamerika zurückgreifen kann. Kaffeeimport und Bildungsarbeit stehen in einem Verhältnis von Praxis und Theorie, die praktische Arbeit dient auch dazu, Erfahrungen zu gewinnen. Drei Prinzipien arbeitet Jonas Harney heraus: persönliche Begegnung, umfassende Partizipation, die über ein Delegieren hinausgeht, und Selbstbestimmung. Auf die Frage nach einem möglichen Wachstum lautet seine Antwort: Eine im Sinne des Vereins arbeitende Gruppe muss überschaubar bleiben, kann aber durch Bildungsarbeit und Vernetzung daran arbeiten, das Prinzip weiter zu verbreiten.
Prinzessinnengarten
Das bekannteste der vorgestellten Projekte, das auch auf dem Titelblatt erscheint, ist wohl der Prinzessinnengarten. Im Stil eines Märchens leitet Alice Watanabe in die Beschreibung ein, die auf der Theorie des Handelns in Hannah Arendts „Vita activa“ aufbaut. Auf der fußballfeldgroßen Brache in Berlin-Kreuzberg kann sich Jede und Jeder einbringen nach dem Motto: „Lass es die Leute machen und mach es nicht selbst.“ Arendts Prinzip der Pluralität, das Gleichheit und Verschiedenheit einschließt, zeigt sich etwa im Miteinander der Generationen, ein öffentlicher Raum, an dem sich Menschen als Freie und Gleiche begegnen können, im Mitgliedertreffen. Die administrative Struktur ist die einer gemeinnützigen GmbH, die aus einem Café und der Anlage weiterer Gärten je 30 Prozent ihrer Einnahmen erwirtschaftet, während die verbleibenden 40 Prozent sich aus unterschiedlichsten Quellen zusammensetzen. Watanabe betont, von Arendt ausgehend, den selbstzweckhaften Charakter des Unternehmens. Wiewohl Gartenbau per se eines der ältesten Gebiete ökonomischen Handelns ist, reicht das Handeln hier weit über den engeren ökonomischen Bereich hinaus. Den eigentlichen Gewinn sieht der Geschäftsführer Robert Shaw im „Ausmaß der gesellschaftlichen Zusammenarbeit.“
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Leila und Ula
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Der Leihladen Leila und der Umsonstladen Ula stellen das Prinzip des Gewinnstrebens geradezu auf den Kopf. Beide verstehen sich als praktische Antwort auf das Problem der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Von Jeremy Rifkins Erörterungen zum „Verschwinden des Eigentums“ und „Die Gabe“ von Marcel Mauss ausgehend, beschreibt Friederike Heiny die unterschiedlichen Konzepte. Leila ist ein Verein, man muss Mitglied werden und einen kleinen Beitrag zahlen. Im Ula, in einem von der TU bereit gestellten Raum, kann Jeder vorbeibringen, was er nicht mehr benötigt, und abholen was er braucht. Die Schwelle ist niedriger, die Solidargemeinschaft der Gebenden und Nehmenden bleibt abstrakt und anonym und zudem auf ehrenamtliche Organisationsarbeit angewiesen. Demgegenüber sind die Mitglieder des Leila durch ein gemeinsames Bewusstsein, aktive Teilnahme und persönliche Begegnung stärker miteinander verbunden. Treten sie als Akteure eines solidarischen Konsums so deutlicher hervor, so bietet andererseits der Ula Wohlhabenden und Bedürftigen die Chance eines Austauschs ohne erniedrigendes Gegenübertreten.
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Die fünf Fälle sind weit davon entfernt, einen Überblick über die Formen und Potenziale solidarischen Wirtschaftens bieten zu können. Sie zeigen jedoch auf exemplarische Weise, dass sich hinter dem Begriff eine große Vielfalt an Motivationen und Organisationsformen verbirgt, und bieten, über den Einzelfall hinaus, eine Fülle von Anregungen, mit welchen theoretischen Ansätzen sich die Fragestellung weiter einkreisen ließe. Die Einleitung von Bastian Ronge vertieft diese Diskussion und gibt damit einen Hinweis, wie sich das weite Feld dessen, was, scheinbar einleuchtend und doch nicht ganz einfach zu fassen, mit dem Begriff solidarische Ökonomie gemeint sein kann. Ein wichtiger Beitrag, wenn diese, wie Christoph Köhler in einem früheren Beitrag in HUMANE WIRTSCHAFT 01/2017 schreibt, „die Hoffnung für die Zukunft“ ist.
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