Neun-Euro-Deutschland – Stefan Nold

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Es ist Montag, der 29. August 2022. Ich sehe auf die Uhr: 4:38. Eili­gen Schritts laufen Filome­na und ich den leich­ten Anstieg von der Unter­füh­rung zum Bahn­steig des Halte­punkts Darm­stadt-Arheil­gen hoch. Als wir oben ankom­men, läuft die rote S‑Bahn des RMV ein. Glück gehabt. Wir setzen unsere FFP2-Masken auf, stei­gen ein und lassen uns, etwas außer Atem, auf die Sitze fallen.
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Die meis­ten Plätze sind noch frei, aber für die frühe Uhrzeit sind erstaun­lich viele Menschen unter­wegs. Wir wollen nach Düssel­dorf. Vor einer Woche haben uns Freun­de besucht: Niko ging früher in Filome­nas Portu­gie­sisch-Kurs; er ist schon länger in Rente, seit dem Sommer auch seine Frau Margret. Sie haben sich einen Wohn­wa­gen zuge­legt und ausgie­big erzählt; wir sind von einer vier­wö­chi­gen Portu­gal-Reise zurück, dem ersten langen Urlaub seit 2004, als wir mit den Kindern in Südfrank­reich waren. Unsere Fahrt durch Portu­gal war ein Traum, eine zweite Hoch­zeits­rei­se. In Zukunft werden wir uns so etwas nicht mehr leis­ten können, gerade dann, wenn wir endlich Zeit dafür hätten. Ich habe an Herrn M. gedacht, unse­ren Nach­barn in der alten Wohnung in der Moller­stra­ße. Jeden Morgen kurz nach sechs ist er, bestimmt 1,90 groß, die dünne Mappe aus brau­nem Kunst­stoff in der Hand, leise die Stufen des Trep­pen­hau­ses herun­ter geknarzt. Er war Schicht­lei­ter in einem Produk­ti­ons­be­trieb. „Wenn mein Mann in Ruhe­stand ist, werden wir endlich reisen können“, hat seine Frau erzählt, beim gemein­sa­men Aufhän­gen der Wäsche auf dem großen, lufti­gen Dach­bo­den, wo alles so schnell trock­ne­te. Eine der angren­zen­den winzi­gen Abstell­kam­mern war damals mein erstes Büro. Später hörten wir, Herr M. sei gestor­ben, nicht lange nach­dem er in Rente gegan­gen war, wir waren da schon ausge­zo­gen. Warum jetzt von dem biss­chen Erspar­ten nicht einen Wohn­wa­gen kaufen? Die Infla­ti­on frisst doch eh bald alles auf. Filome­na hat gemisch­te Gefüh­le. In ihrer Jugend hat sie mit der Mutter immer das Zelt aufbau­en müssen, während der Vater eine rauchen gegan­gen ist. Aber wer weiß, wie lange wir noch leben? „Demnächst ist die Cara­va­ning Messe in Düssel­dorf. Am besten infor­miert ihr euch da“, haben uns Niko und Margret gesagt. Jetzt sind wir auf dem Weg dort­hin. Bis Ende August ist die Fahrt für uns umsonst. Das Neun-Euro-Ticket macht’s möglich. Wir haben es gleich nach der Rück­kehr aus Portu­gal nachts an der Bushal­te­stel­le am Flug­ha­fen gekauft.
Arm, Arbeit, Frankfurt
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Von Frank­furt soll es nach Koblenz gehen und von dort weiter nach Düssel­dorf. Wir sind früh losge­fah­ren, um trotz der übli­chen Verspä­tun­gen genug Zeit auf der Messe zu haben. Als wir uns in Frank­furt in einem Pulk von Menschen vom Tief­bahn­hof nach oben schie­ben, laufen wir an einem Mann vorbei, der sich in einem toten Winkel auf ange­schmutz­ten Flie­sen in unbarm­her­zi­gem Neon­licht lang­sam auf die andere Seite dreht. Der Bauch des Bahn­hofs ist ein belieb­tes Nacht­quar­tier. Die Roll­trep­pe trägt uns nach oben in die riesi­ge, von Glas und Stahl über­wölb­te Bahn­hofs­hal­le. Es ist vier­tel nach fünf, über­all Menschen in Bewe­gung, über­all duftet es nach Kaffee, frischen Bröt­chen, Laugen­bre­zeln. An einem Steh­tisch trin­ken wir Kaffee. Ich esse ein Rosi­nen­bröt­chen, Filome­na ein Crois­sant. Den Reise­pro­vi­ant heben wir uns für später auf. Der Tag wird noch lang. Eine unauf­fäl­li­ge junge Frau mit kurz geschnit­te­nem Haar geht herum und bettelt. „Was möch­ten sie?“ – „I need a bag.“ – „Do you want some­thing to eat?“ – „No, money for a bag.“ Hat sie das Geld nötig?, frage ich mich. Gott antwor­tet: „Wieso fragst du nicht, ob du das Geld nötig hast?“ Nach­dem wir unse­ren Kaffee getrun­ken haben, gehen wir auf die junge Frau zu, die noch immer in
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