Meritokratie – sollen die Technokraten herrschen? – Gero Jenner
mit seiner satirischen Schrift „Der Aufstieg der Meritokratie“ über Nacht Berühmtheit. Er hatte einen Trend der Zeit richtig erkannt. Im Grunde war dieser Trend allerdings nicht sonderlich neu; er hatte im 18. Jahrhundert begonnen, als die Bürgerlichen mit Hilfe ihres Wissens und Könnens immer mehr jener prestigeträchtigen Plätze eroberten, die dem Adel bis dahin aufgrund ihrer privilegierten Geburt zufielen. Aber nach 1945, am Ende des dreißigjährigen europäischen Bruderkriegs, lag die Welt in Trümmern und Wissen und Können waren ganz besonders gefragt. Gleichsam über Nacht konnte das Talent zu größter Wirkung und Reichtum gelangen – am sichtbarsten in den Vereinigten Staaten, wo weltbeherrschende Firmen wie Microsoft, Apple, Amazon usw. von einzelnen Pionieren aus der Taufe gehoben wurden und in kurzer Zeit den Status von globalen Konzernen erlangten. Geradezu ein Symbol für überragendes persönliches Können wurde Elon Musk, ein technisches Universalgenie, das auf dem Gebiet der Kommunikationstechnologie ebenso ideen- und erfolgreich agierte wie im Autobau, in der Weltraumbranche und in der Gehirnforschung. Leuten wie ihm schlägt allgemeine Bewunderung entgegen, denn niemand kann bestreiten, dass sie ihren Ruhm, Rang und Reichtum vor allem dem eigenen überdurchschnittlichen Können verdanken.
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Warum schrieb Michael Young sein Buch „The Rise of the Meritocracy“
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dennoch als eine Satire statt eines Loblieds auf die Tüchtigsten seiner Zeit? Wird denn irgendjemand allen Ernstes daran Anstoß nehmen, dass die durch nichts zu rechtfertigenden Privilegien der Geburt durch individuelles Können abgelöst wurden?
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Vielleicht schon. Das Argument ist nämlich um einiges komplexer – eine Tatsache, die sich daraus ersehen lässt, dass das Ideal der Gerechtigkeit auch dann noch im Zweifel bleibt. Oder haben wir es nicht abermals mit einem Privileg der Geburt zu tun, wenn ein Mozart, Beethoven oder Bach mit außerordentlichem Talent für die Musik oder ein Elon Musk mit einer besonderen Begabung für die Technik geboren werden? Zwar wurde ihnen dieser Vorrang nicht von der Gesellschaft verliehen, wie dies bei einem Fürsten- oder Königstitel der Fall ist. Bei ihnen ist es die Natur selbst, die dafür verantwortlich ist – je nach Neigung mag man sich darunter einen gar nicht so lieben Gott oder die Evolution vorstellen.
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Ist es also – so kann man durchaus fragen – als gerecht zu bewerten, dass Menschen mit unterschiedlichen Talenten geboren werden? Selbst diejenigen, die sich diese Frage nicht stellen wollen, stehen dennoch vor dem Problem, ob es zu rechtfertigen sei, dass die Gesellschaft denen, die durch angeborenes Talent ihren Mitmenschen gegenüber ohnehin schon im Vorteil sind, auch noch zusätzliche Auszeichnungen und Belohnungen gewährt, wodurch die bestehenden natürlichen Unterschiede dann noch um Etliches verschärft und verdeutlicht werden?
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Offensichtlich sind solche Fragen schwer zu beantworten,
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zumal ein äußerlicher Faktor seinerseits noch dazu beiträgt, vorhandenen Talenten sehr unterschiedliche Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Wie die PISA-Studien zeigten, haben auch in Deutschland Kinder aus der oberen und mittleren Schicht eine viel größere Chance auf gut bezahlte Berufe als solche aus sozialen Unterschichten. Die finanzielle Situation der Eltern – neuerlich ein Zufall der Geburt – spielt also weiterhin eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Aussichten und das Lebensglück eines Menschen. Michael Young hatte demnach seine Gründe, wenn er dem Aufstieg der Tüchtigsten eine gehörige Dosis an Skepsis entgegenbrachte.
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Von Young abweichend, möchte ich die Meritokratie
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aber aus veränderter Perspektive beleuchten. Ich gehe davon aus, dass eine überwiegende Mehrheit von Zeitgenossen es völlig gut und richtig findet, dass Leute wie Bill Gates, Steve Jobs, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg oder Elon Musk globalen Einfluss und Macht besitzen, weil sie sich durch spektakuläre Erfindungen einen Namen machten. Dagegen lehnen sie es seit etwa drei Jahrhunderten grundsätzlich ab, von Fürsten, Baronen, Rajahs, Sultanen, Königen und Diktatoren beherrscht zu werden, deren einziges Verdienst darin besteht, von hochgeborenen Eltern abzustammen. Wenn wir dieses grundsätzliche Einverständnis mit einer technologischen Meritokratie als gegeben akzeptieren, dann bleibt aber eine äußerst interessante und, wie wir sehen werden, sehr beunruhigende Frage: Wie wird die künftige soziale Ordnung aussehen, die auf dieser Grundlage entsteht?
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Ein Blick auf die Milliarden überall auf der Welt,
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die mit gebücktem Rücken, das Handy in der Faust, auf das Display dieses Zauberdings starren und einen zunehmenden Teil ihres Lebens dem Umgang mit einem solchen Spielzeug weihen, erleichtert den Einstieg in unser Problem. Neunundneunzig Prozent wissen mit dem Gerät umzugehen. Weniger als ein Prozent weiß, warum und wie es funktioniert, und ein infinitesimal kleiner Bruchteil dieser Kenner wäre imstande, das Gerät neu zu entwickeln, falls es aufgrund einer Katastrophe plötzlich ganz aus der Welt verschwinden würde.
Dieser Gegensatz zwischen einer überwältigenden Mehrheit unwissender Benutzer und einer verschwindenden Minderheit von Kennern und Könnern vertieft sich mit jedem Tag – und zwar auf unentrinnbare Weise, weil der technologische Fortschritt eben nichts anderes bedeutet als wachsende Komplexität – Wissen und Können werden zunehmend und unendlich vertieft. Die Folgen für die Gesellschaft sind nicht nur absehbar, sie sind zudem auch absehbar radikal.
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Eine abnehmende Zahl von Menschen
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wird in Zukunft noch fähig sein, komplexe Technologien zu verstehen. Die Anforderungen an die technische Intelligenz von Forschern und Ingenieuren werden ja mit jedem Tag größer, je mehr sich dieses Wissen vertieft. Zwar werden die Fächer immer mehr aufgeteilt, aber jedes Fach erhält eine breitere Basis und zugleich reicht die Wissenspyramide höher hinauf. Dieser Prozess einer wachsenden Komplexität des Wissens liegt in der Natur der Sache und ist unabwendbar. Die Anforderungen an menschliche Intelligenz werden demnach immer höher, während die Gaußsche Normalverteilung der Intelligenz innerhalb der Bevölkerung eine Konstante ist, die sich allenfalls in Jahrhunderten leicht verändert.
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Die zwangsläufige Folge besteht in einem weltweiten Headhunting,
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in dem jene Staaten im Vorteil sind, die entweder mit dem größten Potenzial einer gut ausgebildeten Bevölkerung trumpfen (z. B. Japan, Südkorea, China) oder mit den größten finanziellen Mitteln, um das Talent aus aller Welt mit hohen Gehältern ins eigene Land zu locken (z. B. USA und andere westliche Staaten). Jetzt schon ist weltweit ein allgemeiner Wettbewerb um die Mittel von Investoren und um die gut ausgebildete Intelligenz entbrannt. Der Pool an Talenten, aus dem global geschöpft werden kann, weitet sich inzwischen auf ganz Asien aus und wird bald auch Afrika umfassen.
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Doch die Globalisierung vermindert nur zeitweise den Druck, ein immer höheres Intelligenzpotenzial zu erschließen. Die Gaußsche Normalverteilung der Intelligenz und die Anforderungen aufgrund endlos zunehmender technologischer Komplexität widersprechen einander. Und daraus ergibt sich eine Folge, die den Aufbau kommender Gesellschaften auf tiefgreifende Weise verändert. Was wir jetzt schon beobachten, wird sich in Zukunft dramatisch vertiefen: die Kluft zwischen einer Bevölkerungsmehrheit einerseits, welche die Früchte technologischer Komplexität nur passiv genießt, und andererseits technischen Universalgenies wie Elon Musk und Seinesgleichen, welche sie erfinden, planen und verstehen. Das Headhunting nach der überdurchschnittlichen Intelligenz geht dann zwangsläufig mit wachsender Ungleichheit der sozialen Anerkennung und Belohnung einher.
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Der Verlust der gemeinsamen Sprache
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Die Meister und Genies aus Technik und Wissenschaft haben mit ihren Mitmenschen immer weniger gemein. Ein Astrophysiker, ein neurologischer Experte oder ein Drosophilaforscher leben in ihren jeweils eigenen Wissensblasen. Wirklich kommunizieren kann der Astrophysiker nur noch mit anderen Astrophysikern sei es in China oder den USA, denn mit den eigenen Landsleuten verbindet ihn nur noch der Zufall der Geburt. Die Naturwissenschaften haben einen Menschentypus hervorgebracht, für den die nationale und kulturelle Zugehörigkeit gar keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, weil die Gesetze der Natur, deren Erforschung sie dienen, eben auch unabhängig von nationalen und kulturellen Grenzen bestehen.eitung).
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