Leserbriefe 03/2018
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Wertstufendemokratie als Alternative zum pseudodemokratischen Parteienstaat
Zu Werner Peters, Im Jahre 1 nach Trump (Nr. 02/2018)
Lieber Werner Peters,
es freute mich, dass Du deinen Artikeln vor und nach der Präsidentschaftswahl in den USA (HUMANE WIRTSCHAFT 04/2016 und 01/2017) nun einen dritten unter dem Titel „Im Jahre 1 nach Trump“ folgen ließest, der wieder durch bestechende Kenntnis der US-amerikanischen Situation überzeugt. Was erstens Deine Interpretation des Wahlergebnisses von 2016 angeht, habe ich dem nichts hinzuzufügen; auch zweitens Deiner Analyse der jetzigen politischen Situation nicht. Was aber drittens Deine entscheidende Frage angeht, ob es Anzeichen für strukturelle, fundamentale Veränderungen der amerikanischen Politik gebe, ob und wie weit die Wahl Donald Trumps ein Wendepunkt in der amerikanischen Politik sei, so möchte ich dazu einige kritische Bemerkungen machen, die unsere erstaunlich verschiedenen Auffassungen von der gegenwärtigen Gefährdung der Demokratie und möglicher Heilungsversuche betreffen.
Zunächst stimme ich Deiner folgenden Diagnose nachdrücklich zu:
„Trumps Wahl hat die Schwächen der liberalen Demokratie bloßgelegt:
Sie ist zu selbstzufrieden mit den relativen Erfolgen bei der materiellen Befriedung der Gesellschaft
Sie ist zu eng verbunden mit dem kapitalistischen System, das in seiner Spätphase dabei ist, die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer zu spalten
Sie ist zu unaufmerksam für die Opfer der Globalisierung
Sie ist zu progressiv und elitär in kulturellen Fragen
Und vor allem: sie ist ohne identitätsstiftende Ziele.“
(S. 44)
Trump habe diese Situation durch seine Tabubrüche und Lügen zwar keineswegs geschaffen. Doch seine Wahl und sein bisher noch kaum gebremstes Agieren sei Indiz einer Grundlagenkrise der liberalen Demokratie in Amerika. Das Kernproblem sei nicht Trump, sondern die Schwäche des politischen Establishments bei der Verteidigung der liberalen Demokratie. Nach den Errungenschaften der ‚Freiheit wovon‘ werde deutlich, dass der Raum der ‚Freiheit wozu‘ leer sei. Da sich die Antwort des Kapitalismus, Konsum und Unterhaltung, als unbefriedigend erweise, habe die politische Élite „keine Antwort auf die alles entscheidende Frage des Menschen: Was gibt unserem Leben Sinn? (…) Der unfreie Mensch des Mittelalters hatte eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: Das Leben nach dem Tod“ (45).
Hier fühle ich mich nun als (auch spiritueller) Philosoph herausgefordert: Soll etwa die Leugnung eines Lebens nach dem Tod (das man ja auch in weniger mystifizierter Form als der kirchlichen verstehen kann und das von Millionen von theosophischen bzw. von der esoterischen New-Age-Mentalität geprägten Amerikanern auch so verstanden wird) sinnstiftend sein? Aber grundsätzlicher, über solche philosophisch-theologischen Grundfragen hinaus: Ist Politik überhaupt dafür zuständig, die Sinnfrage des Menschen zu beantworten? Besteht „liberale Demokratie“ nicht wesentlich darin, die Sinnfrage wie die Suche nach Glück („pursuit of happiness“) wie überhaupt die Deutung der Existenz des Menschen und seiner Würde dem Einzelnen zu überlassen und diesen Sinnraum des Einzelnen lediglich gegen Übergriffe (wie sogar diesen Deinen in der Deutung des Todes) zu schützen?
„Die freie Gesellschaft muss sich diesen Sinn selber erschaffen“, schreibst Du, und weiter: „Wir brauchen eine gesellschaftliche Moral, die über Konsum und Unterhaltung hinausreicht“ (45). Hier ist meine Position eine grundsätzlich andere. Eine wirklich liberale und nicht bloß kapitalistische Demokratie braucht uns weder mit Sinn noch mit Moral zu versorgen, auch nicht durch die im Grunde skandalöse Überprivilegierung der Kirchen, wie sie in Deutschland als Folge des Konkordats zwischen Hitler und dem Vatikan von 1933 herrscht. Sie muss jedoch strukturell so angelegt sein, dass die Grundwerte – Würde des Menschen, seine persönliche Sinndeutung des Lebens und Sterbens, seine moralischen Entscheidungen, soweit sie nicht rechtlich-verbindlich verallgemeinert werden müssen, wie z.B. in den Fragen der Abtreibung, der Ablehnung sexueller Nötigung, der Homosexualität – gegen alle Übergriffe aus Wirtschaft (moderne Lohnsklaverei) und Politik, gegen kulturellen und religiösen Traditionalismus, somit gegen die traditionalistische Vermischung von Religion und Kultur, geschützt werden müssen. Zu den Grundwerten, die neben den individuellen Freiheitswerten in einer wirklich liberalen Demokratie gegen die Vorherrschaft des kapitalistischen Wirtschaftens verteidigt werden müssen, gehören auch die Werte der Natur und der menschlichen Gesundheit, die ökologischen Werte, die sich angesichts des Klimawandels als Überlebenswerte des Menschen selbst herausstellen.
Daher vertrete ich seit Jahrzehnten eine viergegliederte Wertstufen-Demokratie. Du kennst das Konzept einer in den Reflexionsebenen des Zwischenmenschlichen begründeten systemischen Unterscheidung von Wirtschaft, Politik im engeren Sinne, Kultur und Grundwerte, denen nur ein entsprechend gegliederter Parlamentarismus gerecht werden kann. Ein solcher neuartiger Parlamentarismus schließt die Bildung von Sachparteien anstelle der bisherigen, strukturell unsachlichen Allround-Parteien ein, so dass dann jede Wahl zugleich zu einer Abstimmung über Sachfragen auf den verschiedenen Werte-Ebenen von Wirtschaft, Politik, Kultur und Grundwerten wird.
Es geht aber bei der Weiterentwicklung der Demokratie und eines glaubwürdigen Parlamentarismus um dringliche strukturelle Fragen und nicht um einen moralischen Katzenjammer: „Der demokratischen Gesellschaft fehlt es an einer sie tragenden Moral, die über das kapitalistische Wohlstandsversprechen hinausreicht. (…) Wenn es unserer Gesellschaft nicht gelingt, sich aus der alleinigen Bindung an rein materielle Werte wie Wachstum, Effizienz, Gewinn, Produktivität zu befreien, sich von der unseligen Fokussierung auf das Geld zu lösen, wird sie den Weg aller Gesellschaften gehen, die ihren moralischen Halt verloren haben und nur noch die bestehende Ordnung, besser gesagt Unordnung zäh verteidigen. Sie werden untergehen“ (46). Bloß moralische Appelle wie diese, die nicht zu den von mir geforderten strukturellen Konsequenzen führen, gehören selbst zu der Totengräberarbeit, die Du Trump bescheinigst! Diese Art von Totengräberarbeit an der Demokratie können wir uns nicht länger leisten.
Seit meinen ersten Artikeln in dieser Zeitschrift bzw. ihrer Vorgängerin, dem „Dritten Weg“, seit 1994 also, versuche ich auch die engagierten Geldreformer davon zu überzeugen, dass eine grundlegende Geldreform nur durch eine systemtheoretisch fundierte Demokratiereform Aussicht auf Erfolg hätte, darin eingeschlossen eine historisch völlig neuartige Wirtschaftsdemokratie mit einem von den anderen Teilparlamenten unabhängig gewählten Wirtschaftsparlament. (Zuletzt dazu „Wo bitte geht‚s zur Wirtschaftsdemokratie?“, in: HUMANE WIRTSCHAFT 05/2013.) Doch wie viel bequemer sind reine ökonomische Sandkastenspiele oder auch moralisierende Appelle, denen die Folgenlosigkeit gemeinsam ist! Ich wundere mich, wie intelligente Menschen diesen untergründigen geistigen Kampf, ja entscheidenden Kulturkampf, ignorieren können, in welchem es letztlich darum geht, ob ganzheitliches und unabhängiges Denken derzeit überhaupt noch eine Chance hat, auch gegenüber einer korrumpierten Mainstream-Publizistik. Die Lage ist dramatisch, weil der Wirtschaftsphilosoph Gero Jenner leider Recht hat, wenn er feststellt: „Die USA sind eine Plutokratie mit dem formalen Apparat einer Demokratie“ (Newsletter vom 14. März 2018: Trump, Putin, Xi – was macht sie einander so ähnlich?). Diese niederschmetternde Erkenntnis gilt für die Bundesrepublik Deutschland nicht viel weniger. Wer meint, hier mit unbestimmten moralischen Appellen oder mit Währungsfragen allein weiterzukommen, hat den Ernst der sich zuspitzenden Weltlage bei Weitem noch nicht erfasst. Wir können dem weiteren Verfall der Demokratie zur Plutokratie und zum immer offensichtlicheren Parteienklüngel allein mit einer grundlegenden Strukturreform auf systemtheoretischen Grundlagen, beikommen, mit einer friedlichen „Revolution der Demokratie“, die sich auf das „schwere Gerät“ eines derzeit gerade noch halbwegs funktionierenden Rechtsstaates stützt. Dein Plädoyer für eine Minderheitenregierung (statt GroKo) in derselben letzten Ausgabe der HUMANEN WIRTSCHAFT ist typisches Beispiel für eine der zahlreichen Alibi-Diskussionen, ja Totengräber-Diskussionen, im Vergleich mit der wirklich anstehenden Aufgabe.
Vielleicht können wir uns darüber zunächst einmal persönlich neu verständigen. Mit hoffnungsvollen Grüßen!
Dein Johannes Heinrichs
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