Krieg und Wahrheit – Günther Moewes

– - – Der Westen hätte den Ukrai­ne-Krieg vermei­den können
– - – Gedan­ken eines Nichtexperten
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Grund­sätz­lich muss gelten: Wer zuerst Gewalt anwen­det, darf nicht unge­straft davon­kom­men. Wer gefor­der­te und berech­tig­te Sicher­heits­zu­sa­gen verwei­gert, aber auch nicht.
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Dieser Beitrag ist der Versuch, die weit­ge­hend emotio­nal geführ­te Meinungs­kam­pa­gne von Partei­en und Medien auf allen Seiten, sowohl der krieg­füh­ren­den als auch der west­li­chen Unter­stüt­zer der Ukrai­ne, um einige bisher kaum bekannt gewor­de­ne Fakten zu ergän­zen. Deshalb auch die beigefüg­te Fakten­chro­nik und die ausführ­li­che Literaturliste.
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Der uralte Belli­zis­mus in uns
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Eine Zeit lang konnte man denken, der Belli­zis­mus sei in Deutsch­land weit­ge­hend über­wun­den. Unsere Bundes­wehr ist sympa­thi­scher als alle bishe­ri­gen deut­schen Armeen, erst recht als die Stech­schritt­ar­meen Chinas und Russ­lands. Wir haben inzwi­schen sogar einen über­zeu­gen­den Pazi­fis­mus. Und wir hatten zu Zeiten Petra Kellys und Antje Voll­mers einmal eine veri­ta­ble Frie­dens­par­tei. Wie konnte es dann jetzt wieder zu einem so plötz­li­chen Ausbruch von Belli­zis­mus kommen, insbe­son­de­re in den Mehr­heits­par­tei­en und ‑medien?
Ein still­schwei­gen­der Belli­zis­mus schlum­mert sowie­so noch in Deutsch­land und Europa. In Geschichts­bü­chern bekom­men Herr­scher, die in Krie­gen möglichst viel Land und Macht erobert hatten, den Beina­men die „Großen“ oder die „Erobe­rer“: Alex­an­der, Karl, Otto, Fried­rich, Peter, Katha­ri­na und „William the Conque­r­or“– alles „Große“. Im Latein­un­ter­richt ging es immer um „bellum“. Und Napo­le­on, der im ersten großen Feld­zug gegen Moskau sinn­los 300 000 seiner eige­nen Lands­leu­te verheiz­te, wird von den Fran­zo­sen immer noch liebe­voll im Inva­li­den­dom aufbe­wahrt. Wer das nicht schaff­te, wurde wenigs­tens in Mauso­leen bestat­tet oder in heroi­schen Reiter­stand­bil­dern verewigt. Das alles steckt immer noch tief in uns allen (Lit. Supp).
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Kriege können auch aus Mangel an Objek­ti­vi­tät entste­hen: Jeder hält sich für die Inkar­na­ti­on des Guten und den Gegner für die des Bösen. Kaum jemand begreift mehr, welche Provo­ka­ti­on das eigene Reden und Handeln für den ande­ren bedeu­tet. Selten will man wahr­ha­ben, dass die Sicher­heits­be­dürf­nis­se des Gegners berech­tigt und ernst gemeint sind.
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Man befürch­tet, etwa­ige eigene Zwei­fel könn­ten als Schwä­che ausge­legt werden. Das Freund-Feind-Denken bestimmt das Regie­rungs­han­deln und den Tonfall der Medien. Folgen werden immer weni­ger durch­dacht, Risi­ken geschönt. Es wird immer schwie­ri­ger, davon wieder herun­ter­zu­kom­men. Auch deshalb sind Verhand­lun­gen so wichtig.
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Belli­zis­ten bedie­nen sich seit Ewig­kei­ten immer und über­all der glei­chen Paro­len: „Deutsch­land wird am Hindu­kusch vertei­digt“. Hat man ja gese­hen. Wer sich gegen die Lügen des eige­nen Lagers stellt, „besorgt das Geschäft des Fein­des“. „Der Feind ist nur an den Verhand­lungs­tisch zu brin­gen, wenn er sieht, dass er den Krieg nicht gewin­nen kann“. Ein bekann­ter Kriegs­his­to­ri­ker, der noch nie fürch­ten musste, selbst in einem Krieg kämp­fen zu müssen, prägte den Begriff „Unter­wer­fungs­pa­zi­fis­mus“. Klar: Wenn der Pazi­fis­mus um sich greift, hat er nichts mehr zu schrei­ben (Lit. Münk­ler). Alles Selbst­läu­fer der Eska­la­ti­on. Pure Kriegs­trei­be­rei. Da das die Feinde auf beiden Seiten der Front immer gleich­zei­tig und meist weitab vom Schlacht­feld sagen, dauert das eben mal vier oder drei­ßig Jahre lang, bis beide Seiten ihre Fehler einse­hen. Belli­zis­ten gehen von der Annah­me aus, dass nur Partei­lich­keit den Sieg bringt. Pazi­fis­ten gehen von der Annah­me aus, dass nur Unpar­tei­lich­keit den Frie­den bringt. Meist haben auf beiden Seiten Belli­zis­ten das Sagen. Aber selbst, wenn nur auf einer Seite Belli­zis­ten sitzen, behal­ten sie die Oberhand.
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So ist der erste Welt­krieg entstan­den. Niemand hat ihn wirk­lich gewollt. Niemand hatte mit einem Gemet­zel diesen Ausma­ßes und mit neun Millio­nen Toten gerech­net. Die Kaiser und Fürs­ten Euro­pas waren ja alle mitein­an­der verwandt und duzten sich. Man rüste­te eigent­lich nur wie wild auf, weil die Verwand­ten aufrüs­te­ten und man ihnen nicht nach­ste­hen wollte. Und man machte sich vor, das eigene Aufrüs­ten würde sie eher von einem Krieg abschre­cken. Obwohl die dama­li­gen Staats­ober­häup­ter noch keine Wahlen zu fürch­ten hatten, trieb die dama­li­ge Presse sie vor sich her. Kriegs­be­geis­te­rung war schon immer einträg­li­cher als Pazi­fis­mus. Und natür­lich spiel­te auch immer eine Rolle, dass die Anstif­ter nicht selbst an die Front muss­ten. Könnte es sein, dass heute die erstaun­lich belli­zis­ti­schen Töne der grünen „Frie­dens­par­tei“ und eini­ger FDP-Frauen eine ähnli­che Ursa­che haben? Auch vor dem ersten Welt­krieg waren SPD und Linke als einzi­ge gegen den Krieg. Diese beängs­ti­gen­den Paral­le­len zwischen damals und heute sind auch dem inzwi­schen hundert­jäh­ri­gen Henry Kissin­ger aufge­fal­len. Er weist darauf hin, dass nicht einsei­ti­ges Vormacht­stre­ben das Kriegs­ri­si­ko verrin­ge­re, sondern nur eine vernünf­ti­ge Macht­ba­lan­ce. Und dass man Verhand­lun­gen nicht errei­che, ohne Verhand­lungs­mas­se anzu­bie­ten. „Die Welt ist näher an 1914 als an 1939“, titel­te die Frank­fur­ter Allge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung (Lit. Fuku­ya­ma). Hoffent­lich ist sie nicht näher am Atom­krieg als an 1914.
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Über den Ukraine-Krieg
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Schon jetzt ist die Bilanz des Ukrai­ne-Kriegs vernich­tend: 17 Prozent Gelän­de­ge­winn Russ­lands und geschätzte
280.000 bis 340.000 Tote. Erin­nert an Verdun. Ein „völker­rechts­wid­ri­ger Angriffs­krieg“ heißt es im Westen. Schließ­lich hat Russ­land ja die Ukrai­ne über­fal­len und nicht die Ukrai­ne Russ­land. Der Über­fal­le­ne durfte bisher im Gegen­zug noch nicht einmal in das Land des Aggres­sors eindrin­gen. Angriffs­krie­ge sind laut UN-Charta verbo­ten, Selbst­ver­tei­di­gung dage­gen nicht. Aller­dings klingt das Wort „völker­rechts­wid­rig“ aus west­li­chem Munde zynisch: Viet­nam­krieg, Irak­krieg, Liby­en­krieg, Serbi­en­krieg, Beset­zung der Golan­hö­hen – alles west­li­che, völker­rechts­wid­ri­ge Angriffs­krie­ge ohne UN-Beschluss und ohne voraus­ge­gan­ge­nen Angriff der Überfallenen.
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War der Ukrai­ne-Krieg also ein uner­war­te­ter „Über­fall“, wie der Westen das gern behaup­tet? Allen voran Frau Baer­bock und ihre ehema­li­ge „Frie­dens­par­tei“. Putin hatte nach Abschluss der Mins­ker Verhand­lun­gen I und II mehr­fach Sicher­heits­zu­sa­gen von NATO und USA gefor­dert. Diese Verbal­no­ten sind alle doku­men­tiert, wurden aber vom Westen weit­ge­hend totge­schwie­gen. Schon am 15.  4. 21, also zehn Monate vor Beginn des uner­war­te­ten „Über­falls“, hatte die deut­sche Wochen­zei­tung „Die Zeit“ gerät­selt, warum Putin wohl bei Woro­nesch nahe der ukrai­ni­schen Grenze 70.000 Solda­ten zusam­men­ge­zo­gen habe (Lit. Thumann). So uner­war­tet kann der „Über­fall“ also nicht gewe­sen sein. Zwei Monate vor Kriegs­be­ginn sandte Putin der NATO und den USA am 17. 12. 21 noch einmal je einen Vertrags­ent­wurf zu. Der an die NATO enthielt 13 Punkte, an die USA sieben weite­re Punkte (Lit. Ensel, Nien­huy­sen, Schus­ter). Über diese Vertrags­ent­wür­fe wurde zwar von eini­gen deut­schen Medien berich­tet, von den USA und der NATO wurden sie aber nicht beant­wor­tet. Auch nicht von der am 7. 1. 22 dazu einbe­ru­fe­nen außer­or­dent­li­chen digi­ta­len Zusam­men­kunft aller 30 NATO-Außen­mi­nis­ter. Ledig­lich auf der danach statt­fin­den­den Pres­se­kon­fe­renz erklär­te NATO-Gene­ral­se­kre­tär Stol­ten­berg: Jedes Land habe das Recht, jedes Bünd­nis selbst zu wählen, dem es beitre­ten wolle. Diese Aussa­ge beweist wenigs­tens, dass Putin vorher Einwän­de geltend gemacht haben muss. Auch das wird ja biswei­len bestrit­ten. Andert­halb Monate später begann der Krieg.
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Worum ging es Putin in seinen Verbal­no­ten und Vertrags­ent­wür­fen? Es ging ihm vor allem darum, dass die Ukrai­ne nicht der NATO beitritt und dass dort keine Rake­ten oder gar Atom­waf­fen statio­niert werden. Das war ja bereits weit­ge­hend in den Mins­ker Abkom­men zuge­sagt worden, neben vielen ande­ren Punk­ten (s. Chro­nik). Diese „ande­ren Punkte“ waren aber von der Ukrai­ne über­haupt nicht einge­hal­ten worden. Offen­bar mit still­schwei­gen­der Duldung durch die USA. Putin musste deshalb befürch­ten, dass auch kaum die Absicht bestand, sie künf­tig einzu­hal­ten. Das wurde durch die Äuße­rung Angela Merkels unfrei­wil­lig bestä­tigt, wonach sie in den Mins­ker Verhand­lun­gen vor allem den Zweck gese­hen hätte, Zeit für die allzu unvor­be­rei­te­te Ukrai­ne zu gewin­nen. Sie hielt diese Fest­stel­lung wohl für eine geschick­te Ausre­de gegen­über den plötz­li­chen und schä­bi­gen Anfein­dun­gen der Meinungs­me­di­en gegen­über der frühe­ren Russ­land­po­li­tik von Schrö­der, Stein­mei­er und ihr. Und sie bedach­te wohl nicht, dass sie dadurch nur Putins alten Verdacht bestä­tig­te, die lang­wie­ri­gen Mins­ker Verhand­lun­gen seien vom Westen von vorn­her­ein in der Absicht geführt worden, die Ergeb­nis­se nicht einzuhalten.
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Waren Putins Forde­run­gen nach Sicher­heits­zu­sa­gen berech­tigt? Viel­leicht kann man das am besten durch einen Vergleich mit einer ande­ren histo­ri­schen Krise verdeut­li­chen: Schon einmal hat ja die Konfron­ta­ti­on zwischen Russ­land und den USA beina­he den drit­ten Welt­krieg ausge­löst. Das war 1962 in der drei­zehn­tä­gi­gen Kuba­kri­se: Der dama­li­ge sowje­ti­sche Staats­chef Chruscht­schow war Ukrai­ner, wie auch sein Nach­fol­ger Bresch­new. Der soge­nann­te kalte Krieg war damals auf dem Höhe­punkt, Chruscht­schow hatte mit Fidel Castro heim­lich verab­re­det, sowje­ti­sche Atom­ra­ke­ten auf Kuba zu statio­nie­ren. Von dort sind es 200 km bis Flori­da und 1.800 km bis Washing­ton. Die US-Aufklä­rer entdeck­ten die sowje­ti­schen Schif­fe mit den deut­lich sicht­ba­ren Rake­ten auf dem Atlan­tik. Kenne­dy kündig­te an, die Schif­fe zu versen­ken, falls sie nicht sofort umkeh­ren würden. Die Welt hielt den Atem an. Ein Atom­krieg stand im Raum. Aber Chruscht­schow lenkte ein. Die sowje­ti­schen Schif­fe kehr­ten um. Die Entschlos­sen­heit Kenne­dys und das Einlen­ken Chruscht­schows haben uns damals womög­lich vor dem drit­ten Welt­krieg bewahrt. Jeder hielt es damals für selbst­ver­ständ­lich, dass Kenne­dy 200 km vor Flori­da und 1.800 km vor Washing­ton keine russi­schen Atom­ra­ke­ten haben wollte. Wären die sowje­ti­schen Schif­fe nicht umge­kehrt und hätte Kenne­dy sie versen­ken lassen, niemand hätte ihm einen „Angriffs­krieg“ vorge­wor­fen. Nicht einmal, wenn er die Rake­ten erst zerstört hätte, nachdem
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