Kapitalismus – System institutionalisierter Verknappung – Dirk Löhr
Sechs Jahre Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank und die Erkenntnisse Silvio Gesells
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Gesells „Urzins“: Ein theoretischer Irrtum?
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Die Marktwirtschaft arbeitet grundsätzlich zugunsten der knappen Produktionsfaktoren. Nicht das Kapital, sondern die Faktoren Boden und Arbeit sind dabei grundsätzlich begrenzt (was schon in der Zwei-Faktoren-Lehre der Physiokraten zum Ausdruck kam). Sieht man vom Boden ab, wirkt damit die Marktwirtschaft langfristig zugunsten des Faktors Arbeit: Im Zuge wirtschaftlicher Prosperität wird Kapital akkumuliert; in der Folge sinkt die relative Knappheit des Faktors Kapital und die relative Knappheit des Faktors Arbeit nimmt zu. Aufgrund der Verschiebung der Knappheiten ist ein Absinken der Kapitalrenditen und eine Erhöhung der Arbeitnehmereinkommen zu erwarten. Dies war sowohl die Sicht von Silvio Gesell, Zinskritiker und Begründer der Freiwirtschaftslehre, sowie des großen britischen Ökonomen John M. Keynes, dessen Analyse starke Parallelen zu Gesell aufweist.
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Tatsächlich waren die Zinssätze in der Eurozone schon seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten tendenziell im Sinkflug begriffen. Dennoch lagen sie zu Beginn der letzten Dekade noch deutlich über Null. Nach Gesell und Keynes findet die Kapitalakkumulation aber dann ein Ende, wenn die Kapitalrenditen (Keynes: „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“) eine bestimmte Mindestforderung der Geldbesitzer, die eben deutlich über Null liegt, nicht mehr decken können. Dann, so Gesell, „streikt“ das Geld.
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Dieser Mindestzinssatz ist nach Gesell zu beobachten, seitdem es die Geldwirtschaft gibt. Gesell sprach hier vom „Urzins“. Keynes sah dies ähnlich, wenngleich er die Mindesthöhe des Zinssatzes in einem Bereich von zwei bis zweieinhalb Prozent und damit geringer als Gesell einschätzte, der sie auf vier bis fünf Prozent taxierte. Bei ihren Analysen hatten im Übrigen sowohl Gesell wie Keynes nur den knappheitsbezogenen Basiszinssatz im Visier; die im Zins enthaltene Risikoprämie wurde – entgegen der Behauptung oberflächlicher Kritiker – hingegen nicht infrage gestellt. Diese ist für eine effiziente Kapitalallokation unabdingbar; sie stellt eine „Selbstversicherungsprämie“ der Kapitalgeber und damit auch ein gerechtfertigtes Leistungseinkommen dar.
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Gesell markierte an der so verstandenen Mindestrendite auch den Unterschied zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus. Marktwirtschaft und Kapitalismus sind zwar historisch gemeinsam gewachsen, als Idealtypen jedoch scharf zu trennen. Gesell verstand Kapitalismus als ein System institutionalisierter Verknappung. Ähnlich Keynes: Er hielt es für potenziell machbar, innerhalb einer Generation das Kapital soweit zu vermehren, bis die „Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals“ bis gegen Null heruntergedrückt ist. Weil ein höheres Angebot an Kapitalgütern zugleich auch eine höhere Nachfrage nach Arbeit bedeutet, würde dann Gesell zufolge dem Faktor Arbeit als dem am Ende einzig knappen Produktionsfaktor der „gemeinsame volle Arbeitsertrag“ zufallen – wenn man vom Faktor Boden abstrahiert. Tatsächlich verhindert jedoch der positive Mindestzinssatz die Vermehrung des Kapitals bis hin zum „sanften Tod des Rentiers“ (Keynes). Wird das Angebot an Kapital nämlich so stark ausgeweitet, dass die Grenzleistungsfähigkeit den Mindestzins nicht mehr erwirtschaften kann, unterbleiben weitere Investitionen. Durch den dann einsetzenden „Streik“ des Geldes wird die Knappheit des Kapitals perpetuiert. Gesell wollte über eine „Geldumlaufsicherungsgebühr“ künstliche Durchhaltekosten erzeugen, um dem Geld seine Streikfähigkeit zu nehmen und es auch bei Unterschreiten des Mindestzinssatzes in den Umlauf zu zwingen; auf diese Weise wollte er ebenfalls die Geldumlaufgeschwindigkeit stabilisieren.
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Nun drückte die Europäische Zentralbank (EZB) in der letzten Dekade den Geldmarktzinssatz bis unterhalb der Nullmarke, was auch auf den Kapitalmarkt durchschlug. Hier stellen sich Fragen: Wie ist es möglich, dass der sowohl von Gesell wie von Keynes behauptete Mindestzinssatz unterschritten wurde? Waren die von ihnen behaupteten positiven Wirkungen auf Kapitalbildung, Arbeitsmarkt und Arbeitsentgelten während der Niedrigzinsphase zu beobachten? Konnte die Geldumlaufgeschwindigkeit stabilisiert werden? Sofern dies nicht der Fall war: Was sind die Gründe?
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