Die Seele des Westens – Roland Rottenfußer
Europa sollte ein offener Debattenraum sein, in dem Macht begrenzt wird und Narrative verhandelt werden können. Leider ist der „freie Westen“ dabei, sich selbst zu verlieren.
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Die Idee eines völkerverbindenden Europas ist obsolet geworden. Der Werteverfall auf dem Mutterkontinent der „freien Welt“ wurde zuletzt durch die Flüchtlingskrise, durch den unter dem Stichwort „Corona“ vollzogenen Freiheitsabbau und durch die Beteiligung an Kriegen in nah und fern offenkundig. Von „Westlessness“ oder „Hass auf den Westen“, so Jean Ziegler, ist die Rede. Gleichzeitig scheint die frühere Spaltung in rechtsautoritär regierte Länder wie Ungarn und Polen und noch leidlich liberale Teile aufgehoben — derart, dass sich nun Illiberalität und Staatsautoritarismus in ganz Europa ausbreiten. Stets schüren Politik und Medien auch die Angst, von nichteuropäischen globalen „Wettbewerbern“ überholt und aus dem Zentrum heraus an den Rand gedrängt zu werden. Dies geht mit dem Druck beziehungsweise der Versuchung einher, demokratische Standards zu schleifen — mit der Begründung, autoritär regierte Länder seien effizienter und eher auf Erfolgskurs. Wie können wir Europas ursprüngliche Vision bewahren — und worin läge eine solche überhaupt? Wie kann Selbstaufgabe verhindert werden, ohne dass sich Europa zugleich in anachronistischer Kolonialherren-Überheblichkeit noch immer als Lehrmeister aufspielt, an dessen Wesen die Welt genesen soll? „Europa ist keine Leitkultur mehr, die andere belehren will, sondern eine Anleitung zum Selbstdenken“, schreibt der Germanistik-Professor Jürgen Wertheimer. Sicher ist das etwas zu optimistisch gedacht, aber es umreißt einen wünschenswerten Weg. In seinem gewichtigen Buch „Europa — die Geschichte seiner Kulturen“ argumentiert Wertheimer vor allem entlang der reichen Kulturgeschichte. Für den Autor ist Europa kein Hort in Stein gemeißelter „Werte“, sondern ein offener Debattenraum, in dem Denkformen und Lebensentwürfe immer neu unter den Beteiligten verhandelt werden können. Nicht dieses oder jenes „falsche“ Narrativ, das sich in Europa ausbreitet, führt also zum Selbstverrat der alten Welt, sondern allein die Zerstörung einer offenen Gesprächskultur zugunsten autoritärer Vorgaben.
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Die Jupitermonde.
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Heute gilt ihre Existenz als sicher. Im Italien des frühen 17. Jahrhunderts war das nicht ganz so einfach. Laut der Philosophie des Aristoteles, aber auch der Lehre der katholischen Kirche, konnte es außer der Erde keine Planeten geben, um die andere Himmelskörper kreisten. Galileo Galilei galt als der Entdecker der Jupitermonde. Er hatte sie mithilfe eines neu entwickelten Fernrohrs am Himmel entdeckt. Dies, so hätte man annehmen können, war eine Entdeckung, die die wissenschaftliche Welt der Epoche begeisterte.
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Wie es in Wahrheit abgelaufen sein muss, hat Bertolt Brecht in seinem Theaterstück „Leben des Galilei“ glänzend in Dialoge gefasst. Galilei hat einige Gelehrte eingeladen, um seine neuesten Forschungsergebnisse zu präsentieren. Die aber sperren sich gegen das Offensichtliche.
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„Ich fürchte, das alles ist nicht ganz so einfach. Herr Galilei, bevor wir Ihr berühmtes Rohr applizieren, möchten wir um das Vergnügen eines Disputs bitten. Thema: Können solche Planeten existieren?“
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Galilei: „Ich dachte, Sie schauen einfach durch das Fernrohr und überzeugen sich.“ Sein Gesprächspartner: „Man könnte versucht sein, zu antworten, dass ein Rohr, das etwas zeigt, was nicht sein kann, ein nicht sehr verlässliches Rohr sein müsste, nicht?“ Die Gelehrten fordern Gründe, warum es am Himmel freischwebende Gestirne geben solle, welche also nicht — wie man damals annahm — an den schalenartigen himmlischen Sphären angeheftet seien. Die vollendete Harmonie der aristotelischen Astrologie solle nicht gestört werden. Die Jupitermonde seien weder möglich noch notwendig. Das neue optische Gerät müsse somit fehlerhaft oder von Galilei manipuliert sein.
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Und noch ein gewichtiges Argument werfen die zunehmend gereizt und barsch auftretenden „Experten“ ins Feld. Es ist das Totschlagargument schlechthin: „Lügt die Schrift?“ Das kann und darf nicht sein. Gegen die Entdeckung des Galilei steht die klerikale Autorität:
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„Das heilige Officium hat heute Nacht beschlossen, dass die Lehre des Kopernikus, nach der die Sonne Zentrum der Welt und unbeweglich, die Erde aber nicht Zentrum der Welt und beweglich ist, töricht, absurd und ketzerisch im Glauben ist.“
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Und wer das anzweifelt, lebt gefährlich, wie ein Freund Galileis ihn in guter Absicht warnt:
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„Als ich dich vorhin am Rohr sah, und du sahst diese neuen Sterne, da war es mir, als sähe ich dich auf brennenden Scheiten stehen.“
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Im Gegensatz zu Giordano Bruno verbrannte Galilei nicht, weil er seine Erkenntnis unter Druck wider besseren Wissens widerrief.
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Das Prinzip Wahrheit
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Bertolt Brecht versuchte, mit seinem Stück aus dem Jahr 1939 ein Ereignis zu beschreiben, das den Begriff „Zeitenwende“ weitaus mehr verdient als die uninspirierten Taten des Niedergangskanzlers Scholz. Hier prallten an der Schwelle zu einer neuen Epoche zwei Weltbilder aufeinander: Wissenschaftliche Empirie gegen Vorurteil. Das Prinzip Wahrheit gegen religiöse Vorstellungen. Das Gewissen gegen die Autorität. Brecht hat in seinem Stück sozialistische Gedanken mit solchen der bürgerlichen Aufklärung vermischt und ein Gesamtporträt dessen geschaffen, was man heute auch „westliche Werte“ nennen kann. Das Realitätsprinzip, das erkämpft werden muss gegen alle Formen gesellschaftlicher und geistiger Unterdrückung, ist der Beginn jeder Freiheit: „Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass 2 plus 2 vier ist“, heißt es in George Orwells Roman „1984“.
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Hier, in der Figur des Galilei, ist „der Westen“ ganz er selbst. Seine Hauptgegner waren lange Zeit nicht die Vertreter von Ideologien östlicher Länder, sondern Menschen mit archaischen und zu überwindenden Bewusstseinsformen seines eigenen Kulturkreises. Jede Form der Unterdrückung der Gedankenfreiheit mit Verweis auf „heilige Bücher“ und andere Herrschaftsnarrative ist antiaufklärerisch. Dies richtet sich gegen einen übermäßigen Einfluss evangelikaler, muslimischer, aber auch weltlicher Dogmen. Aber auch die Annahme, die Meinungsfreiheit müsse enden, wo sie nicht mit den Erkenntnissen eines Christian Drosten oder Robert Habeck, wo sie vielleicht auch nicht mit grünen Ideen von „Transsexualität“ übereinstimmen, führt in die Irre.
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Allen Gewalten zum Trotz
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Der Westen ist antiautoritär — oder er ist nicht mehr er selbst. Verkommt er zu einer Ansammlung von „Fürstendienern“, wie es Friedrich Schiller im „Don Carlos“ ausdrückt, so ist er nicht mehr als eine sinn- und geistesentleerte Himmelsrichtung — der Ort eben, wo die Sonne abends untergeht.
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Der Westler im guten Sinn ist ein Wahrheitssucher, allen Gewalten zum Trotz frei im Geist und stets willens, das von Anderen oder auch von ihm selbst Erdachte in Frage zu stellen — es immer neu zu über-denken.
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Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass all diese „Werte“ verraten wurden, dass der westliche Mensch heute nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Aber diese Misere zu erkennen, sollte den Westler nicht in lähmenden Selbstzweifeln niederdrücken; er sollte dies vielmehr als Weckruf nutzen, der ihn vorwärtstreibt. Oder — je nachdem, wie man es betrachtet — zurück zu den Zeiten, in denen er mehr Größe besaß.
Aber ist das „Licht“ nur im Westen zu finden? Liegt darin nicht eine Abwertung aller nicht-westlichen Weltgegenden, welche ja unter europäischer und US-amerikanischer Dominanz viel zu lange gelitten haben und die ihre eigenen, großartigen Kulturen hervorgebracht haben? Ein großes Problem in dieser Debatte besteht darin, dass wir zuerst definieren müssten, von welchem „Osten“ wir überhaupt reden, wie ich es in meinem Artikel „Himmelsrichtung des Grauens“ bereits angedeutet habe. Um die Bewertung „besserer“ und „schlechterer“ Himmelsrichtungen geht es mir gar nicht. Jeder Kulturkreis blühte auf seine Weise und entwickelte seine eigenen Verfallsformen. Die meisten davon hatten — wie auch im Westen — mit Machtmissbrauch zu tun. Aber in einer Atmosphäre zunehmend zermürbenden westlichen Selbst-Bashings ist es vielleicht hilfreich, sich darauf zu besinnen, wie das Projekt „westlicher Geist“ einmal gedacht gewesen ist. Es ist leichter, zu dem zurückzukehren, was wir als Gedächtnisspuren noch in uns tragen, als uns etwas völlig Neues anzueignen.
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Putin — der Herausforderer
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Schauen wir uns eine der Reizfiguren an, die oft „dem Westen“ als Antagonisten gegenübergestellt werden: Wladimir Putin. Einen lesenswerten Text hat der russische Präsident über den Liberalismus verfasst. Man kann diesen auch als direkte Herausforderung „des Westens“ auf dem Feld der politischen Philosophie interpretieren. „Und dann ist da noch die moderne sogenannte liberale Idee“, sagte Putin
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