Die dunkle Seite der digitalisierten Finanzwelt – Brett Scott (Deutsch von A. Bangemann)
Die beiden wichtigsten Werkzeuge eines Bankiers im Jahre 1716 sind: das Hauptbuch und ein Federkiel. Ein Kunde – vielleicht ein bedeutender Schreiner – betritt eine Filiale, um eine Abhebung oder eine Einzahlung zu tätigen. Der Bankier vermerkt das sorgfältig im Hauptbuch, ergänzt den vorherigen Eintrag des Kunden entsprechend und führt zuverlässig den Saldo fort. Genau so, wie die Bank es dem Kunden versprach.
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Ein Sprung ins Jahr 2016 bringt uns in eine Welt, die nicht länger von Werkzeugen, sondern von Maschinen beherrscht wird. Der entscheidende Unterschied zwischen einem Werkzeug und einer Maschine besteht darin, dass Werkzeuge auf menschliche Energie angewiesen sind, während Maschinen nicht-menschliche Energie benötigen, kanalisiert über ein System, welches den menschlichen Umgang mit Werkzeugen kopiert und sogar perfektioniert. Der Schreiner wird zum Möbelkonzern mit computergesteuerten Produktionsmaschinen. Dementsprechend brummen in der Bank, die den Geldtransfer des Möbelkonzerns betreut, Rechenzentren mit unüberschaubar umfangreichen Datenbeständen der Konten. Es sind digitale Äquivalente der alten Hauptbücher, die – gefüttert durch Strom aus fossilen Brennstoffen – Informationen als magnetisierte Atome auf Festplatten schreiben und speichern.
Wir nennen den Prozess des Umzugs von manuellen Werkzeugen auf Maschinen „Automation“, und sie begegnet uns in verschiedenster Form in der alltäglichen Finanzwelt. Der Geldautomat zum Beispiel ist eine automatisierte Version des früheren Schalterbeamten, der menschliche Energie aufwenden musste, um Ihr Konto zu überprüfen, Ihnen Geld zu geben und Ihre Kontendaten zu ändern. Ich benutze eine Schnittstelle, um mit diesem Geldautomaten zu interagieren, die mir eine Art Kontrolle zu geben scheint, jedoch nur innerhalb der unflexiblen Regeln, die mir der Apparat vorgibt. Dieser Prozess braucht eigentlich meine Energie. Obwohl die Maschine „Dinge für mich zu tun“ scheint, mutet es auch wie „Selbstbedienung“ an.
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Die Automatisierung schleicht sich immer weiter in Bereiche der privaten Geldgeschäfte ein. Die Hochglanzwerbung der Finanzmarktindustrie versteht es, die zukünftige Welt des kontaktlosen Bezahlens, filialloser Banken und der bargeldlosen Gesellschaft erstrebenswert erscheinen zu lassen. Sie fokussieren die Aufmerksamkeit auf Probleme, die anscheinend nur durch neue Technologien gelöst werden, aber sie lenken gleichzeitig von der dunklen Seite der automatisierten Finanzregime ab, die überall um uns herum entstehen. Um diese Prozesse der Automatisierung – und das Teilgebiet der „Digitalisierung“ – zu begreifen, müssen wir zunächst ein paar Definitionen von Maschinen, Robotern und Algorithmen vornehmen.
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Finanz-Maschinen gegen Finanz-Roboter
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Maschinen erfordern von uns, dass wir sie manuell aktivieren, um eine ihnen gleichgültige Aktion immer wieder auszuführen. Beispielsweise kocht ein Wasserkocher immer Wasser, wenn ich den „Ein“-Knopf drücke. Der Geldautomat hingegen ist eine Multifunktionsmaschine, die verschiedene Dinge tun kann, wenn ich verschiedene Tasten auf der Schnittstelle drücke. „Gib mir € 30“ oder „Zeig mir meinen Kontostand“. Er scheint jedoch keine „Entscheidungen zu treffen“ oder irgendeine Fähigkeit zu haben, selbstständig zu reagieren. Damit dieser wie ein Roboter anmutet, sollte er ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit aufweisen um Entscheidungen zu treffen, die auf externen Informationen basieren.
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Um zu verstehen, wie ein Finanzroboter aussieht, müssen wir noch einige grundsätzliche Eigenschaften von Robotern skizzieren. Wir können uns einen traditionellen Roboter als ein System aus vier Komponenten vorstellen:
Körper: Ein Gefüge von mechanischen Teilen – - –
Geist: Ein algorithmischer „Geist“, der Informationen verarbeiten oder analysieren kann – - –
Sinne: Sensoren, die externe Daten erfassen können – - –
Energiequelle: Zum Beispiel elektrischer Strom – - –
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Der traditionelle Roboter kann Daten über Sensoren aufnehmen, sie durch einen algorithmischen Verstand verarbeiten und damit den mechanischen Körper aktivieren, vorausgesetzt, es steht elektrische Energie zur Verfügung. Ein Beispiel für einen solchen Roboter wäre z. B. ein Staubsauger. Sein mechanischer Körper, der Daten von Fotosensoren (Sinne) erhält und sie durch einen Algorithmus (Geist) verarbeitet, kann damit seine Position berechnen. Daraus werden „Entscheidungen getroffen“ die wiederum in Anweisungen an den Körper resultieren, sich durch den Raum zu bewegen und „autonom“ Ihr Wohnzimmer zu saugen.
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Wichtig ist jedoch, dass es nicht unbedingt notwendig ist, dass es überhaupt einen mechanischen „Körper“ gibt. Ein Roboter könnte auch einfach ein softwarebasierter, algorithmischer „Verstand“ sein, der Daten erfasst und Befehle an andere Einheiten sendet, um seinen „Willen“ durchzusetzen. Wir könnten das einen Algo-Roboter nennen.
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Stellen wir uns einmal ein Berechnungsblatt einer Tabellenkalkulation vor, mit dessen Hilfe der angemessene Preis eines Finanzpapiers, wie z. B. einer Aktie, ermittelt werden soll. Eine nur mit Stift und Papier ausgerüstete Person bräuchte Stunden, oder gar Tage, um die relevanten Daten zu recherchieren und die Berechnung manuell durchzuführen. Die Tabellenkalkulation hingegen dirigiert Stromimpulse die durch die Hardware eines Computers fließen, um die gleiche Berechnung in einem winzigen Bruchteil der Zeit durchzuführen. Das ist eine Finanzmaschine, die manuelle menschliche Berechnungsprozesse automatisiert.
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Um daraus ein Robotersystem zu machen, müssen wir ihm ermöglichen auf extern verfügbare Daten – wie z. B. aktuelle Preiseangaben der Londoner Börse – zuzugreifen und sie durch seinen „Geist“ algorithmischer Formeln verarbeiten zu lassen. Damit geben wir dem System die Fähigkeit, maßgebliche Entscheidungen auf der Grundlage seiner Berechnungen zu treffen (wie zum Beispiel, Kauf- oder Verkaufs-Order auf dem Aktienmarkt durchzuführen). Voilà, genau so funktioniert automatisierter Handel, auch algorithmischer Handel genannt. Das Berechnungsmodell der Tabellenkalkulation hat sich zum Algo-Roboter-Händler gewandelt. In der Folge kann die algorithmische Kodierung stärker „vermenschlicht“ werden, z. B. indem man den Roboter mit maschineller Lernfähigkeit und „sich selbst weiterentwickelnden Algorithmen“ ausstattet, die sich an veränderte Bedingungen anpassen können.
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Die Algo-Roboter-Manager der digitalen Finanzierung
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Algo-Roboter-Systeme sind besonders geschickt bei der Anhäufung von Macht. Anders als eine einfache Maschine, die über eine Schnittstelle feste Wahlmöglichkeiten anbietet, hat ein Algo-Roboter – oder eine Reihe verknüpfter Algo-Roboter – eine ausgeprägte Fähigkeit, auf unterschiedlichste Weise auf eine Vielzahl von Datenströmen zu reagieren. Damit ist er in der Lage, zu organisieren und zu koordinieren. Diese Eigenschaft macht solche Systeme für die Chefetagen von Unternehmen höchst interessant, denn schließlich gehören derlei Reaktionen und auch das Koordinieren zu den Hauptaufgaben eines Managers.
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Innerhalb der alten Hierarchien von Unternehmen setzten die Eigentümer Manager ein, um Arbeiter und Maschinen zu koordinieren. Dies führte zu den traditionellen Auseinandersetzungen zwischen Eigentümern und Managern, Managern und Arbeitnehmern, sowie Arbeitnehmern und Maschinen. Die aktuell aufstrebende Hierarchie ist auf subtile Weise anders. Die Eigentümer – oftmals eine ständig wechselnde Ansammlung ferner Aktionäre – übergeben dem obersten Management die Macht. Diese nutzen zunehmend algorithmische Systeme als „mittleres Management“, um ihre Arbeiter und einfachere Maschinen zu organisieren.
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