Deutschland – eine Bananenrepublik? – Gero Jenner

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Von ihren Kriti­kern wird die reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie verdäch­tigt, die Wähler zu entmün­di­gen, weil es diesen verwehrt sei, direkt über Geset­zes­vor­ha­ben abzu­stim­men. Dieser Vorwurf lässt die grund­le­gend verän­der­te sozia­le Reali­tät außer Acht. Wir leben nicht mehr in der grie­chi­schen Antike oder in der Zeit des germa­ni­schen Things, wo freie Männer (Frauen waren noch ausge­schlos­sen) über Krieg und Frie­den und andere gemein­schaft­li­che Belan­ge entschie­den. Moder­ne Gesell­schaf­ten sind so komplex gewor­den, dass die meis­ten Entschei­dun­gen ein Fach­wis­sen erfor­dern, das nur noch von Spezia­lis­ten erbracht werden kann. Wir brau­chen nur an den Klima­wan­del zu denken. Nahezu alle halb­wegs aufge­klär­ten Bürger sehen ein, dass die weite­re Vergif­tung der Atmo­sphä­re mit CO2 ein großes Übel ist, das wir so schnell wie möglich abstel­len soll­ten, aber die weit­rei­chen­den Folgen unbe­dach­ter Maßnah­men sind nur einer klei­nen Zahl bewusst. Wenn wir das Klima wirk­lich retten wollen, dann müssen wir unsere Wirt­schaft und unser bishe­ri­ges Leben voll­stän­dig ändern. Auf massi­ve, für die meis­ten Menschen noch ganz unvor­stell­ba­re Art werden diese Maßnah­men in Produk­ti­on, Verkehr, Ener­gie­wirt­schaft und vor allem in Arbeit und Einkom­men eingreifen.

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Die direk­te Demo­kra­tie ist ein Ideal, 

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das sich nur unter der Voraus­set­zung verwirk­li­chen lässt, dass alle Bürger über sämt­li­che anste­hen­den Proble­me gleich gut infor­miert sind. Das war aber schon zur Zeit der anti­ken Demo­kra­tie nicht mehr der Fall – und ist es seit­dem immer weni­ger. Seit der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on lebt der Mensch in einer tech­no­lo­gi­schen Wissens­ge­sell­schaft von expo­nen­ti­ell gewach­se­nem Fach­wis­sen und Fach­kom­pe­ten­zen. Auch schein­bar so einfa­che Proble­me, ob und bis zu welchem Grade ein Staat sich verschul­den darf, setzen ein umfas­sen­des Wissen voraus, das auch von den popu­lä­ren Wissens­an­bie­tern, den Medien, allen­falls bruch­stück­haft oder popu­lis­tisch verzerrt über­mit­telt wird, weil der durch seine Arbeit gewöhn­lich stark bean­spruch­te Bürger verständ­li­cher­wei­se nicht mehr bereit oder auch nur in der Lage ist, sich persön­lich mit Proble­men zu befas­sen, die in ihrer Viel­falt unüber­schau­bar gewor­den sind. Um es in aller Deut­lich­keit zu sagen: der Über­gang von der direk­ten zur reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie wurde durch die sozia­le Entwick­lung zur Wissens­ge­sell­schaft erzwun­gen. Wer die erste­re als Lösung unse­rer Proble­me heute noch propa­giert, ist ein gefähr­li­cher Popu­list, denn er will, dass Laien über Fach­pro­ble­me entscheiden.

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Aber ist damit nicht der Verdacht ausgesprochen, 

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dass Demo­kra­tie heute über­haupt nicht mehr funk­ti­ons­fä­hig sei, eben weil die meis­ten anste­hen­den Proble­me sich dem durch­schnitt­li­chen Wähler nicht mehr erschlie­ßen und ihn auch die Medien – als vierte Instanz neben Exeku­ti­ve, Legis­la­ti­ve und Judi­ka­ti­ve – kaum noch wirk­li­che Aufklä­rung bieten?

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Nein, diese Schluss­fol­ge­rung wäre ganz falsch, denn in einer tiefer­lie­gen­den, und gerade deswe­gen wesent­li­chen Hinsicht sind die Bürger sehr wohl letzte und höchs­te Instanz: nämlich in ihren Wert­ur­tei­len. Ob eine Mehr­heit weite­re Zuwan­de­rung gutheißt oder ob sie sich vom Mitleid dazu bestim­men lässt, die Gren­zen weit zu öffnen; ob die Menschen mate­ri­el­le Gleich­heit eher wollen als eine beson­de­re Förde­rung der Talen­te, also größe­re Ungleich­heit; ob die Innen­städ­te von Verkehr frei­ge­hal­ten werden sollen oder man dem Auto über­all Vorfahrt einräu­men soll; ob die Ehe auf Männer und Frauen beschränkt blei­ben soll oder für alle gelten; ob für reli­giö­se Minder­hei­ten diesel­ben Rechte wie für die tradi­tio­nell vorherr­schen­de Reli­gi­on gelten sollen; ob Poli­ti­ker sich durch ihr Amt persön­lich berei­chern dürfen – diese und ähnli­che Fragen hängen von Wert­ur­tei­len ab, über die jeder Bürger gleich­be­rech­tigt urtei­len kann, weil Wert­maß­stä­be kein Fach­wis­sen erfordern.

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Es verhält sich mit Werten genau umge­kehrt: Sie bilden die eigent­li­che Grund­la­ge allen Exper­ten­wis­sens. Die indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on und die von ihr bewirk­te expo­nen­ti­el­le Expan­si­on unse­res wissen­schaft­lich-tech­ni­schen Wissens entsprang ja selbst einer neuen Wert­ori­en­tie­rung. Seit jener Zeit hofft der Mensch, das Glück, statt im Himmel in der Verbes­se­rung der irdi­schen Zustän­de zu finden.
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