Den Anker auswerfen in eine regenerative Zukunft! – Rezension von Markus Henning
Wer zu neuen Ufern aufbrechen will, muss die Routen des Bestehenden hinter sich lassen. Die linear-kausalen Fahrpläne einer auf Herrschaft, Kapitalverwertung und Wachstumszwang getrimmten Welt führen nicht weiter. Sie verstellen uns den Blick für mögliche Pfade in eine Zivilisation, die im Gegensatz zur heutigen in der Lage wäre, das langfristige Überleben der Menschheit zu sichern.
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Um zu erahnen, wo die Reise langgehen soll, haben wir zuallererst unsere Vorstellungskraft neu zu trainieren. Wir brauchen konkrete Visionen darüber, wie ein gutes Leben für alle innerhalb der ökologischen Grenzen unseres Planeten aussehen könnte.
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Diesem Ansatz folgen Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub und Sebastian Vollmar in ihrem Buch Zukunftsbilder 2045. Eine Reise in die Welt von morgen. Es ist selbst Resultat einer Suchbewegung des Unterwegsseins. Vielerorts haben die Autorinnen und Autoren mit lokalen Initiativen und Stadtverwaltungen gesprochen, sich mit Fachexpertinnen und Architekturgrafikern über erstrebenswerte Zukünfte ausgetauscht, in Nischen sozial-ökologischen Engagements Sinn erfahren und Kraft getankt.
„Die Auseinandersetzung mit den weltweit existierenden Realutopien hat uns gezeigt, wie viele Menschen überall schon anpacken, wie viele Lösungen es für nahezu alle Gesellschaftsbereiche bereits gibt und wie schnell die Regeneration der Natur möglich ist, wenn man ihr den Freiraum dafür lässt. Wenn wir uns gesellschaftlich neu ausrichten und an einem Strang ziehen würden, könnten wir in kürzester Zeit eine gewaltige Transformation schaffen“ (S. 165).
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Ihr Erfahrungswissen führen Schaller, Zeddies, Scheub und Vollmar in systemischen Entwicklungsszenarien zusammen, über die sie uns in einer imaginierten Reportage aus dem Jahr 2045 Kenntnis geben. Der mäandernde Bericht aus insgesamt 16 Orten in Deutschland und Europa öffnet sich auch für sinnliche Vergegenwärtigung. Jedem Kapitel sind fotorealistische Abbildungen im Großformat beigegeben, welche die heutigen Stadtbilder mit den zukünftigen Potentialen eines lebens- und naturbejahenden Designs kontrastieren. Sie verleihen der Phantasie Flügel und verweben sich mit den Texten zu einem ganzheitlichen Verstehenshorizont, in dem fünf wesentliche Strukturprinzipien Gestalt annehmen:
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Regeneration als neuer Entwicklungspfad. Hierbei geht es nicht allein um die Heilung ökologischer Schäden, den Aufbau resilienter Topographien und die Wiederbelebung natürlicher CO2-Senken. Es geht auch ganz grundsätzlich darum, die Funktionsmechanismen von Ökosystemen konsequent auf unseren Stoffwechsel mit der Natur zu übertragen. Statt an linearem Ressourcenverbrauch müssen sich unsere Transportströme von Wasser, Nährstoffen und Energie über alle Lebensbereiche hinweg am Leitbild geschlossener Kreisläufe ausrichten. „Ökosysteme machen keinen Müll, beuten niemanden aus und holen sich ihre Energie vollständig aus Sonnenlicht. Und sie schaffen Bedingungen, die das Leben fördern“ (S. 36). Technologische Innovationen können nur dann Hebelwirkungen entfalten, wenn sie nicht zum Selbstzweck werden, sondern sich als Werkzeuge einfügen in den menschlichen Wiederanschluss an naturbasierte Klimalösungen.
Partizipative Demokratie und Dezentralität. Grundlegend für die Entwicklung einer regenerativen Kultur ist die Neugestaltung unseres Zusammenlebens im Sinne einer Demokratisierung der Demokratie. Nur wenn alle Institutionen von unten nach oben neu organisiert werden, kann das für partizipative Klimakonzepte unerlässliche Gefühl von Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit entstehen. Zivilgesellschaftliches Engagement und kooperative Quartiersgestaltung machen Nachbarschaften zu Orten für vertrauensvolle Begegnung, konstruktiven Austausch, gegenseitiges Verständnis und Autonomie. Bei übergeordneten Entscheidungen können Möglichkeiten der Mitbestimmung durch ein Zusammenspiel von Bürgerräten, Parlamenten und Volksentscheiden erweitert werden. Auch die postfossile Energiewende lebt von Vielfalt und Gegenseitigkeit. „Es gibt alle möglichen Techniken: Solarbalkone und ‑fassaden, Kleinwindanlagen, Geothermie, nachbarschaftliche Kalt- und Wärmenetze, Kraft-Wärme-Kopplung oder die Verpachtung von Fassaden und Dächern an Solardienstleister. Alles ist wichtig, alles spielt zusammen. Je dezentraler, desto besser, desto krisenfester. […] Wenn heute meine Solaranlage ausfällt, hat meine Nachbarin garantiert noch Strom übrig. Diese autonomen Energienetze haben auch den menschlichen Zusammenhalt in der ganzen Stadt gestärkt. […] Die städtischen Energieversorger sind heute allesamt in kommunaler Hand […]“ (S. 90 f.)
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