Baum ohne Wurzeln – Stefan Nold
18 Jahre lang, von 1983 bis 2001, bewohnten wir eine schöne, aber wenig komfortable 80 Quadratmeter große Altbauwohnung im Darmstädter Martinsviertel, auch „Watzeviertel“ genannt, nach den Watzen, den Schweinen, die man ganz früher dort gehalten hat. Die Miete betrug 560 DM. Geheizt wurde mit einem Kohleofen und drei Ölöfen. Abends legte man ein in nasses Zeitungspapier eingewickeltes Brikett in den Ofen. So konnte man am nächsten Morgen direkt frische Kohle in die letzten Reste der Glut nachlegen. Zu Beginn des Winters wurde im Keller ein 1000 Liter Tank gefüllt. In zwei Kannen mit jeweils 10 Liter Fassungsvermögen trug ich das Öl bis in den dritten Stock. Das müffelte dann in einer Nische im Flur vor sich hin, bis es benutzt wurde. Eine besondere Freude war es, den Innenraum der Ölöfen mit einem kleinen Schraubenzieher und einem nur für diese Zwecke verwendeten Staubsauger zu reinigen. Nach einer solchen Aktion war ich vollständig mit schmierigem, schwarzem Ruß bedeckt, von den Händen, den Haaren, über das ganze Gesicht bis tief in die Nase hinein. Heute wohnen wir in einem Reihenhaus mit Wandheizung und ich muss mich um so gut wie nichts mehr kümmern. Das ist bequem, aber es hat auch Nachteile:
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Fluch des Fortschritts
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„Wir entfernen uns von dem, was die Grundlage unseres Lebens sichert. Wir verlieren den Bezug zu den Dingen, von denen wir leben. Die Automation und die damit verbundene Bequemlichkeit suggeriert uns eine selbstverständliche und immerwährende Verfügbarkeit, die nicht gegeben ist. Sie verführt uns dazu, in gedankenloser Weise Energie zu verschwenden. Wir dürfen uns nicht zurückziehen in die virtuelle Realität, die in Bits und Bytes auf unseren Computerfestplatten codiert ist. Wir müssen wieder Boden unter die Füße bekommen, denn es ist der Acker, der uns ernährt. Vielleicht finden wir den Knalleffekt zur Lösung unserer Ressourcenprobleme, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Wir beziehen unser Vertrauen in die unbegrenzten Möglichkeiten der Technik nicht aus nüchterner Analyse, sondern aus alten James-Bond-Filmen. Es ist kein Zufall, dass uns diese Streifen im Fernsehen immer wieder gezeigt werden. Sie sollen uns glauben machen, dass wir unbesiegbar sind, wenn wir nur genügend Technik einsetzen. Aber wir drücken nicht immer den richtigen Knopf wie 007, sondern greifen oft daneben.“ [1.1] Unsere Zivilisation gleicht einem riesigen Baum, der dank unserer technischen Errungenschaften jeden Tag größer wird. Ein gesunder Baum hat unter der Erde ein starkes und weit verästeltes Wurzelwerk, das ihn stützt und nährt. Es ist in etwa so groß wie der sichtbare Teil mit seinen Ästen, Zweigen und Blättern. Mit dem Baum unserer Zivilisation ist das anders. Ihre Wurzeln sterben um so schneller ab, desto höher ihre Wolkenkratzer in den Himmel schießen und desto prächtiger sie von außen scheint.
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Technik hat mich seit meiner frühen Jugend begleitet und begeistert. Als Zehnjähriger habe ich einen ellenlangen Draht durch mein Zimmer gespannt, um Radiowellen aufzufangen. Lange habe ich an einem großen Drehkondensator hin und her gedreht, bis ich mit dem Kopfhörer ganz leise die schwachen Töne eines Senders hören könnte. Und das alles mit einer Handvoll Bauteile, die ich über Drähte mit Klemmen auf einem Steckbrett verbunden hatte. Wahnsinn! Das größte Geburtstagsgeschenk war in der Oberstufe ein Taschenrechner, den man programmieren konnte, der TI-58 für 395 DM. Leider ließen sich damit die Programme nicht speichern. Mit dem TI-59 ging das. Der hatte Magnetkarten, kostete aber das Doppelte. Technik erschien mir damals als das Tor zu einer besseren und angenehmeren Welt und ich war fest entschlossen, dabei zu sein, um es weiter aufzustoßen. Aber schon als Student kamen mir erste Zweifel. Durch die Automation würden Arbeitsplätze wegfallen, hieß es, aber die würden sich dann zu anderen, höherwertigen Tätigkeiten verlagern. Aber es gibt Menschen, die nur mit sehr einfachen Arbeiten ihren Beitrag zum Gemeinwohl leisten können. Irgendwo gibt es eine Grenze, ab der eine weitere Automation vielleicht einen Profit für ein Unternehmen, aber für die Gesellschaft insgesamt keinen Nutzen mehr bringt, ja sogar schädlich ist.
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Die inneren Widersprüche unseres Verhaltens traten schon damals deutlich zutage. Der Raubbau an den Ressourcen unserer Erde war uns sehr bewusst: Der Club of Rome hatte 1972 einer breiten Öffentlichkeit klar gemacht, dass wir auf Dauer nicht so würden weitermachen können. „Als ich 1980 in Darmstadt anfing zu studieren, hat die Hochschulbuchhandlung Wellnitz den Global 2000 Bericht [2] an den damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, einen über tausend Seiten starken Wälzer, palettenweise verkauft. Das Buch enthält eine klare Analyse der Zukunft. Was hat meine Generation daraus gemacht? Wir hatten Erfolge, wie die Reinhaltung von Luft und Wasser. Debatten wie der Dieselbetrug verstellen den Blick auf die Aufgabe, bei der wir völlig versagt haben: Wir haben die Ressourcen unserer Erde hemmungslos ausgebeutet, nicht nur Öl, sondern auch Wasser, ja sogar bautechnisch nutzbarer Sand wird knapp. Es wird immer schlimmer. Wir sind völlig irre. Der technische Fortschritt, der uns so viel Segen gebracht hat, ist zum Fluch geworden. ‚Darum frisst der Fluch die Erde und büßen müssen’s die darauf wohnen‘, prophezeit Jesaja vor 2700 Jahren.“ Das sagte ich am 8. September 2018 in einer Rede in der Darmstädter Centralstation für die Lokalgruppe der Micha Initiative [3], die sich für Frieden und Nachhaltigkeit auf christlicher Grundlage einsetzt.
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Es wird viel geredet, aber es ändert sich so gut wie nichts. Auf lokaler Ebene gab es den ein oder anderen Erfolg. In Darmstadt hat eine Bürgerinitiative zwischen 2006 und 2009 ein weit über 100 Millionen teures Straßenbauprojekt, die Nordostumgehung, gegen heftigen Widerstand von allen Seiten verhindert. Das Bundesverkehrsministerium teilte mir die damals gängige Begründung für das Projekt mit: „Die Verringerung von Staus im Bundesfernstraßennetz führt zu einer Verringerung des CO2-Ausstoßes und dient damit dem Klimaschutz.“ [4] Es ist kein Wunder, dass uns die Schweiz mit ihrem engmaschigen voll elektrifizierten Schienennetz um mehrere Jahrzehnte voraus ist. Immerhin: Unser Erfolg hatte gezeigt, dass auch ein kleines Häuflein aufrechter, engagierter und kämpferischer Bürger sich gegen staatlich orchestrierte Fake News durchsetzen kann.
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