Andacht – Stefan Nold
Es ist Sonntag, 15. Dezember 2019, dritter Advent. Die Weihnachtszeit ist die einzige Zeit im Jahr, in der ich ungern zum Gottesdienst gehe. Das liegt an meiner Erziehung. Wir hatten kein Fernsehen. Mit sechs habe ich meinen ersten Film gesehen, im großen Provinzkino in Bad Ems mit meinen Eltern: Das Evangelium Matthäus von Pasolini. Seitdem ist Jesus für mich der Mann mit den stechenden Augen aus dem Pasolini-Film, der den Menschen mit der Vollmacht des Messias ins Gewissen redet. Das Kind in der Krippe ist mir fremd geblieben. Deshalb will ich an diesem Sonntag etwas anderes machen: Ich werde zu einer Andacht der Quäker in Frankfurt fahren. Die Quäker lehnen Gewalt ab. Sie suchen Gott in der tätigen Hilfe für ihre Mitmenschen. Das Spektrum ist breit: Auch wenn viele vom Christentum herkommen, gibt es neben evangelikalen und liberalen auch buddhistische Quäker.
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Vor kurzem haben Filomena und ich im Fernsehen „High Noon“ (12 Uhr mittags) von Fred Zinnemann angeschaut, den zweiten Film, der mir aus früher Kindheit in Erinnerung ist. Grace Kelly spielt darin eine Quäkerin, die Kane (Gary Cooper), den Sheriff des Ortes, an seinem letzten Arbeitstag heiratet. Mitten in die Hochzeitszeremonie platzt die Botschaft, dass der Verbrecher Frank Miller auf dem Weg in die Stadt ist, um sich an Kane zu rächen, dem Mann, der ihn ins Gefängnis gebracht hat. Einerseits aus Pflichtgefühl, andrerseits aus der sicheren Einschätzung, dass der Konflikt unvermeidlich ist („wir hätten nie Ruhe“), will Kane sich Frank und seinen drei Komplizen stellen. Franks Zug kommt um 12 Uhr mittags. Bis dahin versucht Kane Helfer zu finden. Er geht in die Kirche und fragt, wer mit ihm kommen will. Es folgt ein großes Palaver: „Hätte man damals auf mich gehört, hätten wir heute diese Probleme nicht“, sagt ein älterer Herr. Am Ende geht Kane so allein zurück wie er gekommen ist. Immer wieder erklingt die sanfte, melancholische Melodie aus der ersten Szene. „Do not forsake me, oh my darling.” Kanes Frau will gemäß ihrem Glauben als Quäkerin, der sie zu absoluter Gewaltfreiheit verpflichtet, sofort abreisen, bleibt aber dann da. Beim finalen Schusswechsel tötet sie aus einem Fenster heraus einen Gangster und rettet ihrem Mann das Leben. In der letzten Szene wirft Kane den Bewohnern des Ortes, die voller scheinheiliger Begeisterung aus ihren Löchern gekrochen sind, seinen Sheriffstern in den Staub vor ihre Füße und fährt mit seiner Frau davon.
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In Deutschland treffen sich die Quäker, um zu schweigen. Eine Stunde lang werden wir in einem Gemeindehaus auf einer Bank nebeneinandersitzen und nichts sagen. Wir werden in uns hinein hören und versuchen zu verstehen, was Gott uns sagen will. 60 Minuten lang. Früher dauerte Fiebermessen 10 Minuten. Das kam mir damals sehr lang vor. Eine Quäkerandacht ist genau so lang wie sechs Mal Fieber messen. Ich weiß beim besten Willen nicht: Werde ich das schaffen? Bislang hat Gott immer im Schlaf zu mir gesprochen oder in dem Dämmerzustand kurz vor dem Aufwachen. Auf diese Weise bringt er mein Tagesgeschäft nicht durcheinander. Ich habe ein kleines Ingenieurbüro, das immer wieder ums Überleben kämpfen muss. Es ist schön, dass er mich da in Ruhe lässt.
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Aber der Sonntag ist sein Tag. Da will ich ihm entgegenkommen. Ich frühstücke nicht. Gestern haben wir den 50. Geburtstag eines Freundes aus unserer Gemeinde gefeiert. Das Buffet war sehr reichhaltig, und ich habe viel zu viel gegessen. Um 9:15 schwinge ich mich auf mein Fahrrad und nehme Kurs auf Frankfurt. Ich bin schon öfter mit dem Fahrrad nach Frankfurt gefahren und weiß aus Erfahrung: Bei zügiger Fahrt bin ich in genau 90 Minuten am Mainufer. Von da habe ich noch 15 Minuten bis zum Beginn der Andacht um elf Uhr in der Leerbachstraße nördlich der Alten Oper. Das ist zu schaffen. Kräftig trete ich in die Pedale. Es geht gut voran. Zwischen Wixhausen und Egelsbach fahre ich über das erste Teilstück des neuen Fahrradschnellwegs zwischen Darmstadt und Frankfurt. Ab Langen nehme ich den Weg an der B3 entlang. Das geht am schnellsten. Nach einer Stunde bin ich am Ortsausgang von Neu-Isenburg. Eine Straßenbahn in Richtung Frankfurt steht abfahrbereit an der Endhaltestelle. Ich bin gut in der Zeit, also fahre ich weiter.
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Kurz danach fängt es an ziemlich stark zu regnen. Mitten im Frankfurter Stadtwald werde ich vom üblichen Weg umgeleitet. Die Umleitungsbeschilderung ist miserabel, die Brille beschlagen, der Untergrund feucht und glitschig. Ich orientiere mich mehr durch Instinkt als durch Überlegung. Irgendwann komme ich am Bahnhof Frankfurt-Louisa an. Über einen schmalen Weg voller Laub geht es parallel zur Bahn weiter Richtung Frankfurt bis zur Mörfelder Landstraße. Ich habe Zeit verloren, aber nicht zu viel. Um den Kreuzungsbereich zwischen Holbeinstraße, Kennedyallee und Gartenstraße zu überqueren, muss man als Radfahrer eine Stafette von drei Ampeln überqueren. Obwohl wenig Verkehr ist, dauert es bei der ersten Kreuzung zwei Minuten, bis die Ampel grün wird. An der zweiten Ampel stehe ich genau so lang. Ein Pärchen kommt und drückt den kleinen Knopf eines Bedarfsmelders, den ich übersehen hatte. Eine weitere Minute vergeht. Wenn ich jetzt nicht losfahre, komme ich zu spät und störe die Andacht. Die Ampel steht immer noch auf Rot und ich fahre über die Kreuzung. Um Punkt 10:45 bin ich am Mainufer. Auf dem Holbeinsteg humpelt eine junge Frau mit einer Krücke auf mich zu. Möchte sie Geld? Ich bin in Eile; ich fahre weiter. In der Taunusanlage vor dem Opernplatz weicht eine Fußgängerin einer großen Pfütze aus genau in mein Fahrrad hinein und bringt mich kurz zum Anhalten. Wenige Minuten später stehe ich vor der Tür der Katharinengemeinde in der Leerbachstraße 18. Es ist 10:57. Unter dem Anorak dampft meine Haut vor Anstrengung.
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Die Straße ist ausgestorben. Ich betätige zwei Klingelknöpfe, aber es tut sich nichts. Es ist niemand da. Die plötzliche Ruhe nach der schnellen Fahrt lässt mich frösteln. Ich fahre noch einmal um den Block, schaue in den benachbarten Hinterhof, aber es ist alles still. Ich bin etwas ratlos. Ich muss wohl ohne Andacht wieder zurück. In Neu-Isenburg bin ich an mehreren einladend aussehenden Bäckereien vorbeigefahren. Vielleicht mache ich da halt und frühstücke. Mit dieser angenehmen Aussicht fahre ich langsam durch die Taunusanlage zum Main, umrahmt von den Hochhäusern der Frankfurter Skyline. Die Embleme der Banken sind ganz oben angebracht, mit Zurückhaltung, aber deutlich. Wuchtig überragen die Geldhäuser die unscheinbar kauernden Gotteshäuser. Architektur spiegelt die wahren Verhältnisse. Mit starrem Blick kommen mir drei Touristen entgegen. Jeder trägt ein Smartphone vor sich her und einen Stöpsel im Ohr. Sie sehen aus, als wären sie ferngesteuert. Im kurzen Zickzack erreiche ich den Holbeinsteg über den Main.
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Dort sehe ich die junge Frau wieder. Jetzt verstehe ich: Sie bettelt mich an. Ich beginne mit ihr zu reden. Die Verständigung ist mühsam. So viel verstehe ich: Sie kommt aus Moldawien, bettelt hier und schläft nachts in der U‑Bahn. Vor kurzem habe ich einen gut recherchierten Bericht über rumänische Bettler in der Zeitung gelesen. Dort wurde der weit verbreiteten Darstellung widersprochen, dass diese Bettler ausschließlich Mitglieder von Banden seien, die von ihren Chefs abkassiert würden. Die Leute kennen sich zwar, sind oft aus den gleichen Dörfern, wo es keine Verdienstmöglichkeiten gibt. Das erbettelte Geld bringen sie nach Hause, um sich und ihre Verwandtschaft zu ernähren. Wie ist die junge Bettlerin einzuordnen? Ihr Operationsgebiet ist nicht schlecht. Gegenüber liegt das berühmte Städel-Museum mit vielen gutverdienenden Besuchern. Ich könnte ihr einen Euro geben und weiterfahren. Ein Euro als Almosen, das sind dreißig Cent mehr als einmal Pinkeln auf einer Autobahnraststätte. Das ist mir zu billig „Sie brauchen einen Plan“ sage ich. „Einen Plan für ihr Leben. Wissen sie was ein Plan ist?“ Ich hole meinen Stadtplan von Frankfurt heraus, den ich bei mir habe. Er ist aus dem Jahre 1980. Die Brücke, auf der wir stehen, der Holbeinsteg, ist darauf noch nicht eingezeichnet. Ich zeige auf das zerfledderte Stück Papier: „Das ist ein Plan. So einen Plan – für ihr Leben. Das brauchen sie.“ Die junge Frau sieht mich fragend an. Sie hat keine Ahnung, was der ältere bärtige Mann mit dem Fahrradhelm, dem roten Anorak, der dunkelblauen Regenhose, dem total verdreckten silberfarbenen Fahrrad, dem ausgeblichenen Rucksack und dem zerknitterten Stadtplan von ihr will. So kommen wir nicht weiter. „Deutsch nur bisschen“ sagt sie und hält Daumen und Zeigefinger so, dass dazwischen nur ein kleiner Abstand liegt. „Können sie keine andere Sprache?“ Sie legt den Kopf etwas schief und sagt: „Italienisch“. Wunderbar! Italienisch kann ich zwar längst nicht so gut wie Portugiesisch, die Muttersprache meiner Frau, aber ich war schon öfter zu Inbetriebnahmen in Italien. Ich mag die Italiener, und ich mag ihre Sprache. Sie erzählt mir ihre Geschichte:
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Sie heißt Monica G. und ist 27 Jahre alt. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester ist sie als kleines Mädchen von Moldawien nach Italien ausgewandert. Der Vater arbeitete als Landarbeiter auf Tomatenfeldern in Sizilien. Der Patron hat ihn um seinen Lohn betrogen. Dann hatte er einen Infarkt und kann seitdem nicht mehr arbeiten. Die Mutter ist gesund. Die Schwester ist von ihrem Mann, einem Albaner, mit drei kleinen Kindern sitzen gelassen worden. „Sie weint viel“, sagt Monica. „Die Kinder gehen in die Schule“, versichert sie mir. Die ganze Familie wohnt in Neapel. Die Miete kostet 350 Euro. Monica kann ihren Namen schreiben aber nicht viel mehr. Sie fährt nach Deutschland, um zu betteln, für die Miete, für Medikamente für den Vater, für Sachen zum Anziehen für ihre Nichten. „Morgen muss ich wieder Geld schicken.“ sagt sie.
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„Sie brauchen ein Plan für ihr Leben“ greife ich meine Idee von vorher wieder auf. „Vielleicht hilft Gott“ sagt sie. „Was hat Gott mit Monica für einen Plan?“ Vielleicht war es Gottes Plan, mich bei diesem unangenehmen Dezemberwetter mit dem Fahrrad nach Frankfurt zu scheuchen, um dieser jungen Frau zu helfen. Aber wie soll ich das anstellen? Mitten in meine Ratlosigkeit höre ich Gott sagen: „Wenn du vor einem technischen Problem stehst, fällt dir doch auch immer etwas ein. Streng dich an. Wenn du gar nicht weiter weißt, werde ich dir einen Tipp geben, wie ich das sonst auch immer tue. Du kennst mich doch!“ – „Aber heute ist doch Sonntag“ antworte ich. „Genau!“ sagt Gott.
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Vor kurzem haben Filomena und ich im Fernsehen „High Noon“ (12 Uhr mittags) von Fred Zinnemann angeschaut, den zweiten Film, der mir aus früher Kindheit in Erinnerung ist. Grace Kelly spielt darin eine Quäkerin, die Kane (Gary Cooper), den Sheriff des Ortes, an seinem letzten Arbeitstag heiratet. Mitten in die Hochzeitszeremonie platzt die Botschaft, dass der Verbrecher Frank Miller auf dem Weg in die Stadt ist, um sich an Kane zu rächen, dem Mann, der ihn ins Gefängnis gebracht hat. Einerseits aus Pflichtgefühl, andrerseits aus der sicheren Einschätzung, dass der Konflikt unvermeidlich ist („wir hätten nie Ruhe“), will Kane sich Frank und seinen drei Komplizen stellen. Franks Zug kommt um 12 Uhr mittags. Bis dahin versucht Kane Helfer zu finden. Er geht in die Kirche und fragt, wer mit ihm kommen will. Es folgt ein großes Palaver: „Hätte man damals auf mich gehört, hätten wir heute diese Probleme nicht“, sagt ein älterer Herr. Am Ende geht Kane so allein zurück wie er gekommen ist. Immer wieder erklingt die sanfte, melancholische Melodie aus der ersten Szene. „Do not forsake me, oh my darling.” Kanes Frau will gemäß ihrem Glauben als Quäkerin, der sie zu absoluter Gewaltfreiheit verpflichtet, sofort abreisen, bleibt aber dann da. Beim finalen Schusswechsel tötet sie aus einem Fenster heraus einen Gangster und rettet ihrem Mann das Leben. In der letzten Szene wirft Kane den Bewohnern des Ortes, die voller scheinheiliger Begeisterung aus ihren Löchern gekrochen sind, seinen Sheriffstern in den Staub vor ihre Füße und fährt mit seiner Frau davon.
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In Deutschland treffen sich die Quäker, um zu schweigen. Eine Stunde lang werden wir in einem Gemeindehaus auf einer Bank nebeneinandersitzen und nichts sagen. Wir werden in uns hinein hören und versuchen zu verstehen, was Gott uns sagen will. 60 Minuten lang. Früher dauerte Fiebermessen 10 Minuten. Das kam mir damals sehr lang vor. Eine Quäkerandacht ist genau so lang wie sechs Mal Fieber messen. Ich weiß beim besten Willen nicht: Werde ich das schaffen? Bislang hat Gott immer im Schlaf zu mir gesprochen oder in dem Dämmerzustand kurz vor dem Aufwachen. Auf diese Weise bringt er mein Tagesgeschäft nicht durcheinander. Ich habe ein kleines Ingenieurbüro, das immer wieder ums Überleben kämpfen muss. Es ist schön, dass er mich da in Ruhe lässt.
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Aber der Sonntag ist sein Tag. Da will ich ihm entgegenkommen. Ich frühstücke nicht. Gestern haben wir den 50. Geburtstag eines Freundes aus unserer Gemeinde gefeiert. Das Buffet war sehr reichhaltig, und ich habe viel zu viel gegessen. Um 9:15 schwinge ich mich auf mein Fahrrad und nehme Kurs auf Frankfurt. Ich bin schon öfter mit dem Fahrrad nach Frankfurt gefahren und weiß aus Erfahrung: Bei zügiger Fahrt bin ich in genau 90 Minuten am Mainufer. Von da habe ich noch 15 Minuten bis zum Beginn der Andacht um elf Uhr in der Leerbachstraße nördlich der Alten Oper. Das ist zu schaffen. Kräftig trete ich in die Pedale. Es geht gut voran. Zwischen Wixhausen und Egelsbach fahre ich über das erste Teilstück des neuen Fahrradschnellwegs zwischen Darmstadt und Frankfurt. Ab Langen nehme ich den Weg an der B3 entlang. Das geht am schnellsten. Nach einer Stunde bin ich am Ortsausgang von Neu-Isenburg. Eine Straßenbahn in Richtung Frankfurt steht abfahrbereit an der Endhaltestelle. Ich bin gut in der Zeit, also fahre ich weiter.
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Kurz danach fängt es an ziemlich stark zu regnen. Mitten im Frankfurter Stadtwald werde ich vom üblichen Weg umgeleitet. Die Umleitungsbeschilderung ist miserabel, die Brille beschlagen, der Untergrund feucht und glitschig. Ich orientiere mich mehr durch Instinkt als durch Überlegung. Irgendwann komme ich am Bahnhof Frankfurt-Louisa an. Über einen schmalen Weg voller Laub geht es parallel zur Bahn weiter Richtung Frankfurt bis zur Mörfelder Landstraße. Ich habe Zeit verloren, aber nicht zu viel. Um den Kreuzungsbereich zwischen Holbeinstraße, Kennedyallee und Gartenstraße zu überqueren, muss man als Radfahrer eine Stafette von drei Ampeln überqueren. Obwohl wenig Verkehr ist, dauert es bei der ersten Kreuzung zwei Minuten, bis die Ampel grün wird. An der zweiten Ampel stehe ich genau so lang. Ein Pärchen kommt und drückt den kleinen Knopf eines Bedarfsmelders, den ich übersehen hatte. Eine weitere Minute vergeht. Wenn ich jetzt nicht losfahre, komme ich zu spät und störe die Andacht. Die Ampel steht immer noch auf Rot und ich fahre über die Kreuzung. Um Punkt 10:45 bin ich am Mainufer. Auf dem Holbeinsteg humpelt eine junge Frau mit einer Krücke auf mich zu. Möchte sie Geld? Ich bin in Eile; ich fahre weiter. In der Taunusanlage vor dem Opernplatz weicht eine Fußgängerin einer großen Pfütze aus genau in mein Fahrrad hinein und bringt mich kurz zum Anhalten. Wenige Minuten später stehe ich vor der Tür der Katharinengemeinde in der Leerbachstraße 18. Es ist 10:57. Unter dem Anorak dampft meine Haut vor Anstrengung.
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Die Straße ist ausgestorben. Ich betätige zwei Klingelknöpfe, aber es tut sich nichts. Es ist niemand da. Die plötzliche Ruhe nach der schnellen Fahrt lässt mich frösteln. Ich fahre noch einmal um den Block, schaue in den benachbarten Hinterhof, aber es ist alles still. Ich bin etwas ratlos. Ich muss wohl ohne Andacht wieder zurück. In Neu-Isenburg bin ich an mehreren einladend aussehenden Bäckereien vorbeigefahren. Vielleicht mache ich da halt und frühstücke. Mit dieser angenehmen Aussicht fahre ich langsam durch die Taunusanlage zum Main, umrahmt von den Hochhäusern der Frankfurter Skyline. Die Embleme der Banken sind ganz oben angebracht, mit Zurückhaltung, aber deutlich. Wuchtig überragen die Geldhäuser die unscheinbar kauernden Gotteshäuser. Architektur spiegelt die wahren Verhältnisse. Mit starrem Blick kommen mir drei Touristen entgegen. Jeder trägt ein Smartphone vor sich her und einen Stöpsel im Ohr. Sie sehen aus, als wären sie ferngesteuert. Im kurzen Zickzack erreiche ich den Holbeinsteg über den Main.
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Dort sehe ich die junge Frau wieder. Jetzt verstehe ich: Sie bettelt mich an. Ich beginne mit ihr zu reden. Die Verständigung ist mühsam. So viel verstehe ich: Sie kommt aus Moldawien, bettelt hier und schläft nachts in der U‑Bahn. Vor kurzem habe ich einen gut recherchierten Bericht über rumänische Bettler in der Zeitung gelesen. Dort wurde der weit verbreiteten Darstellung widersprochen, dass diese Bettler ausschließlich Mitglieder von Banden seien, die von ihren Chefs abkassiert würden. Die Leute kennen sich zwar, sind oft aus den gleichen Dörfern, wo es keine Verdienstmöglichkeiten gibt. Das erbettelte Geld bringen sie nach Hause, um sich und ihre Verwandtschaft zu ernähren. Wie ist die junge Bettlerin einzuordnen? Ihr Operationsgebiet ist nicht schlecht. Gegenüber liegt das berühmte Städel-Museum mit vielen gutverdienenden Besuchern. Ich könnte ihr einen Euro geben und weiterfahren. Ein Euro als Almosen, das sind dreißig Cent mehr als einmal Pinkeln auf einer Autobahnraststätte. Das ist mir zu billig „Sie brauchen einen Plan“ sage ich. „Einen Plan für ihr Leben. Wissen sie was ein Plan ist?“ Ich hole meinen Stadtplan von Frankfurt heraus, den ich bei mir habe. Er ist aus dem Jahre 1980. Die Brücke, auf der wir stehen, der Holbeinsteg, ist darauf noch nicht eingezeichnet. Ich zeige auf das zerfledderte Stück Papier: „Das ist ein Plan. So einen Plan – für ihr Leben. Das brauchen sie.“ Die junge Frau sieht mich fragend an. Sie hat keine Ahnung, was der ältere bärtige Mann mit dem Fahrradhelm, dem roten Anorak, der dunkelblauen Regenhose, dem total verdreckten silberfarbenen Fahrrad, dem ausgeblichenen Rucksack und dem zerknitterten Stadtplan von ihr will. So kommen wir nicht weiter. „Deutsch nur bisschen“ sagt sie und hält Daumen und Zeigefinger so, dass dazwischen nur ein kleiner Abstand liegt. „Können sie keine andere Sprache?“ Sie legt den Kopf etwas schief und sagt: „Italienisch“. Wunderbar! Italienisch kann ich zwar längst nicht so gut wie Portugiesisch, die Muttersprache meiner Frau, aber ich war schon öfter zu Inbetriebnahmen in Italien. Ich mag die Italiener, und ich mag ihre Sprache. Sie erzählt mir ihre Geschichte:
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Sie heißt Monica G. und ist 27 Jahre alt. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester ist sie als kleines Mädchen von Moldawien nach Italien ausgewandert. Der Vater arbeitete als Landarbeiter auf Tomatenfeldern in Sizilien. Der Patron hat ihn um seinen Lohn betrogen. Dann hatte er einen Infarkt und kann seitdem nicht mehr arbeiten. Die Mutter ist gesund. Die Schwester ist von ihrem Mann, einem Albaner, mit drei kleinen Kindern sitzen gelassen worden. „Sie weint viel“, sagt Monica. „Die Kinder gehen in die Schule“, versichert sie mir. Die ganze Familie wohnt in Neapel. Die Miete kostet 350 Euro. Monica kann ihren Namen schreiben aber nicht viel mehr. Sie fährt nach Deutschland, um zu betteln, für die Miete, für Medikamente für den Vater, für Sachen zum Anziehen für ihre Nichten. „Morgen muss ich wieder Geld schicken.“ sagt sie.
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„Sie brauchen ein Plan für ihr Leben“ greife ich meine Idee von vorher wieder auf. „Vielleicht hilft Gott“ sagt sie. „Was hat Gott mit Monica für einen Plan?“ Vielleicht war es Gottes Plan, mich bei diesem unangenehmen Dezemberwetter mit dem Fahrrad nach Frankfurt zu scheuchen, um dieser jungen Frau zu helfen. Aber wie soll ich das anstellen? Mitten in meine Ratlosigkeit höre ich Gott sagen: „Wenn du vor einem technischen Problem stehst, fällt dir doch auch immer etwas ein. Streng dich an. Wenn du gar nicht weiter weißt, werde ich dir einen Tipp geben, wie ich das sonst auch immer tue. Du kennst mich doch!“ – „Aber heute ist doch Sonntag“ antworte ich. „Genau!“ sagt Gott.
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