Bleib Mensch – bleib gesund! – Stefan Nold
die Welt auch in dunklen Tagen etwas heller gemacht hat.
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In Zeiten von Corona hört man zum Abschied immer öfter: „Bleiben Sie gesund!“ Es ist eine nette Geste, ein Zeichen von Besorgnis und Anteilnahme. Aber irgendwann verkommt sie zu einer Floskel. Auch nach einem „Wie geht es dir?“ erwartet man keine Antwort. Mark Twain behauptete einmal, dass in der New Yorker Gesellschaft keiner dem anderen zuhöre: Er wettete mit einem Freund und versprach, auf der nächsten Party den Beweis anzutreten. Zu besagter Party kam Twain eine halbe Stunde zu spät und begrüßte die Hausherrin im Kreise der Erwartungsvollen: „Entschuldigen Sie bitte meine Unpünktlichkeit! Ich musste noch meine alte Tante erwürgen, und es dauerte ein wenig länger, als ich vermutete.“ – „Wie reizend von Ihnen“ erwiderte die Gnädige, „dass sie trotzdem gekommen sind.“ [2]
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Gleichgültigkeit gegenüber seinem Nächsten frisst den Menschen von innen auf. Empathie liegt in seiner Natur wie der Drang zu Überleben. Krankhafte Ichbezogenheit ist ihm über viele Generationen hinweg antrainiert worden. Diese will ständig befriedigt werden, etwa durch Angeben und Schaumschlägerei. In Krisenzeiten ist das besonders gut zu beobachten. Es sind ideale Bedingungen, um die Gunst Anderer zu balzen und sich wichtig zu machen. Auch die Wissenschaft hat ein eminentes Eigeninteresse: Wer heute als Experte punktet, hat morgen beim Rattenrennen um Fördergelder die Nase vorn.
Pausieren und Sinnieren
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Wenn man von einer Sache keine Ahnung hat, muss man sich informieren. Diskussionen und Beiträge von Experten sind ein guter Einstieg. Aber irgendwann muss man anfangen selbst nachzudenken. Nachdenken ist mühsam, kostet viel Zeit. Das ist ärgerlich, denn wir alle wollen eine schnelle Antwort. Experten, die nur in eine Richtung denken, sind gerne bereit uns diese „silver bullet“, die silberne Kugel zu geben. So übersehen wir oft das Wesentliche. Der bekannte Software-Entwickler Tom de Marco erzählt folgende Episode: „In meiner Zeit bei den Bell Laboratorien haben wir in Zweimannbüros gearbeitet. Sie waren groß, ruhig, und man konnte die Telefone umleiten. Ich arbeitete in einem Raum zusammen mit Wendl Thomis, der später sein Imperium als Hersteller von elektronischem Spielzeug aufbaute. Damals arbeitete er an einem Fehlerkatalog für elektronische Switching-Systeme. Dieser Katalog basierte auf der Idee von Abweichungen im n‑dimensionalen Raum; die Erarbeitung dieses Konzepts war selbst für Wendls Konzentrationsfähigkeit eine Herausforderung. An einem Nachmittag saß ich über ein Programmlisting gebeugt da, während Wendl in die Luft starrte und die Füße auf dem Schreibtisch liegen hatte. Unser Chef kam zur Tür herein und fragte: ‚Wendl, was machst du da?‘ Wendl antwortete: ‚Ich denke‘. Darauf der Chef: ‚Kannst du das nicht zu Hause machen?‘“ [3]
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Der Kabarettist Jess Jochimsen berichtet in seinem brüllend komischen Buch „Das Dosenmilchtrauma“ über seine Jugend bei seinen Eltern aus der 68-er Generation folgende Episode: Bei einer Klassenfahrt seines Sozialleistungskurses nach Berlin traf er Helmut Kohl „auf offener Straße, ganz ohne Bodyguards.“ Kohl nahm die Truppe samt Lehrerin mit in sein Büro. Und dann durfte ein Schüler aus dem Kurs eine Frage stellen. Schwierig. Am Ende brachte einer heraus: „Macht es Spaß Bundeskanzler zu sein?“ Jochimsen schreibt: „Helmut Kohl verzog keine Miene, sah uns sehr ernst an und antwortete: Wisst ihr, nachts, wenn die Nation schläft, sitze ich hier allein in diesem Büro. Ich schaue die Goldfische in meinem Aquarium an und denke an Deutschland.“ [4] Wer jetzt lacht, lacht zu früh. Das Ganze spielte sich ab im Mai 1989 und ist in Form eines Gruppenfotos in einer Lokalzeitung dokumentiert. Jochimsen schwört: „Das hat er genau so gesagt“. Ein halbes Jahr später fiel die Mauer und Kohl nutzte die Gunst der Stunde. Vielleicht haben wir die Wiedervereinigung, oder besser gesagt, den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, den Goldfischen in Kohls Büro zu verdanken.
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Björn Engholm, der ehemalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, schreibt in seinem Buch „Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft“: „Politiker in einer repräsentativen Demokratie meinen, sie müssten sich ständig in Szene setzen, dürften niemals Ratlosigkeit zeigen.“ In dem Abschnitt „Vom politischen Alltag“ gibt er einen kleinen Kalenderrückblick: Dienstag 11:00 Kabinettsitzung, 14:00 Fraktionssitzung 15:00 Interview zum Schleswig-Holstein Musikfestival 16:00 Sitzung des Verwaltungsrats der Landesbank. Ende 21:00. Am Ende des Abschnitts fragt Engholm: „Was bleibt? Manchmal nach langen Tagen voller Reden, nerviger Diskussion, langen Aktenstudiums und Töpfen voller Kaffee … frage ich mich, was einem am Ende bleibt. Was bleibt uns, die wir in der 81. Wochenarbeitsstunde glänzenden Auges vor aktiven Gewerkschaftsvertretern das hohe Lied der 35 Stunden Woche singen, die wir, überfordert von Menschen, die glauben, Politiker seien allmächtig, gute Miene zum schon verlorenen Spiel machen; die wir in Fraktions- Partei oder Spezialistensitzungen einen endlosen Kampf um Kompromisse ausfechten, uns mit Fragen beschäftigen, die zwar die Anwesenden, kaum aber die Bevölkerung interessieren; die wir auf dem geistigen Stand der Zeit, besser noch ihm voraus sein sollten, obwohl wir unsere letzten wissenschaftlichen Seminare vor 20 Jahren besucht haben; die wir immer lächeln sollen, Zuversicht zeigen, Optimismus ausstrahlen, obwohl auch uns gelegentlich hundeelend und zum Kotzen ist.“ [5]
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