Karl Marx – ein hellsichtiger Reaktionär? – Gero Jenner
Die gesunde Reaktion besteht in einem solchen Fall darin, den Müll gleich dort abzulagern, wo er fast immer hingehört: in den Papierkorb. Wenn ich diese natürliche Handbewegung unterließ, dann deswegen, weil ich die vier ersten Zeilen des Autors bereits gelesen hatte – und die haben mich denn doch neugierig gemacht.
Marx wollte das Eigentum an den Produktionsmitteln abschaffen, genau das, so der bewusste Autor, hätten die großen Feudalsysteme Jahrtausende lang getan. In der Theorie und sehr oft auch in der Praxis war ein König von Gottes Gnaden Eigentümer des ganzen Landes sowie der Arbeitskraft seiner Untertanen. Im real existierenden Sozialismus war es nicht anders, nur dass ein Zentralkomitee statt eines Königs Eigentümer des Landes und aller Produktivkräfte ist und Marx die Stelle Gottes besetzt. Müsse man daraus nicht folgern, dass die Forderung nach Abschaffung des Eigentums die Vision eines Reaktionärs ist, der die Zukunft unbewusst nach dem Bilde einer mehrtausendjährigen Vergangenheit modelliert, die er doch bewusst mit aller Kraft bekämpfte?
In einem territorial definierten Staat das Eigentum schlechthin abzuschaffen, sei grundsätzlich unmöglich – irgendwer behalte immer die rechtliche und rechtmäßige Verfügung (z. B. gegenüber dem Ausland). Im absolutistisch-theokratischen Feudalsystem sei, wie gesagt, der König der einzig rechtmäßige Eigentümer gewesen, seine Untertanen dagegen nur Besitzer, denen er die Verfügung über das Land und dessen Erträge auf Widerruf gewährte. Im real existierenden Sozialismus sei der durch das Politbüro repräsentierte Staat ebenso der einzige Eigentümer des Territoriums und seiner Produktionsanlagen gewesen, das Volk durfte darüber nur wie über einen temporär genehmigten Besitz verfügen. Beide Systeme glichen sich darin, dass sie Befehlsordnungen sind: Dem einzelnen wird sein Los von oben zugeteilt, ohne dass er Einspruch erheben kann: gegen den gottbegnadeten König ebenso wenig wie gegen das marxistische Zentralkomitee.
In dieser von ihm ausdrücklich als „reaktionär“ bezeichneten Ausrichtung der Marxschen Zukunftsvision an den Eigentumsverhältnissen des Feudalismus erblickt der Autor einen unverzeihlichen Fehler, denn Marx hätte sehr wohl erkennen können, dass der demokratische Impetus der amerikanischen und französischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts einer ganz anderen Forderung entsprach. Geburtsrechte sollten beseitigt, Privilegien abgeschafft werden, um an die Stelle erblicher Vorrechte das individuelle Verdienst zu setzen. Überall, wo Demokratie wenigstens in Ansätzen verwirklicht wurde, laufe dies in der Praxis auf eine Neuverteilung von Vermögen (z. B. Landbesitz) hinaus – das hatte sich ja auf unerträgliche Weise in wenigen Händen konzentriert, nämlich in denen eines funktionslos gewordenen Adels und eines auf weltliche Macht versessenen Klerus. Nicht Abschaffung des Eigentums, sondern dessen gerechte Verteilung – darin habe immer die Grundforderung demokratischer Revolutionen bestanden! Und was man unter einer „gerechten“ Verteilung zu verstehen hatte, schien ebenfalls klar. Individuelles Wissen und Können, die der Gesellschaft wie dem einzelnen dienten, sollten ein Anrecht auf soziale Anerkennung und persönliches Eigentum verschaffen, und eben nur diese: Geburtsbedingte Privilegien hätten in einer solchen demokratisch bestimmten Gesellschaftsordnung nichts mehr zu suchen.
Diesem Aufbegehren gegen das unverdiente, parasitäre Privileg verdanken Demokratien ihre Schlagkraft gegen die von ihnen abgelösten Feudalsysteme. Sie appellieren an den Einzelnen, damit er aus eigenem Antrieb seinen Beitrag zum eigenen und zum Wohl der Gesellschaft leiste. Allerdings habe dieser Appell notwendig zur Folge, dass die Einzelnen in einem solchen System der „Selbstverwirklichung“ miteinander im Wettbewerb stehen, während in den Befehlssystemen (Feudalismus und real existierender Sozialismus) Wettbewerb streng genommen keinen Platz haben könne, da allen Schichten und deren Gliedern die eigene Rolle von oben zugeteilt und verordnet wird.
Nach Überzeugung des Autors erklärt sich so ein weiterer reaktionärer Rückschritt bei Marx: die Anrüchigkeit des Wettbewerbs, die mit dem tatsächlichen Ergebnis der demokratischen Revolutionen erst recht nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Denn der Kampf gegen die allem Wettbewerb entzogenen Privilegien von Adel und Klerus und die Ersetzung der Privilegien durch individuelles Wissen und Können laufe zwangsläufig darauf hinaus, dass der Wettbewerb in der neuen demokratischen Gesellschaft eine besondere Stellung einnehmen musste. Wissen und Können unterscheiden sich ja nicht allein von einer Person zur anderen, sondern ändern beständig ihren Inhalt, da jede Zeit andere Prioritäten setzt. Anders gesagt, setzen Wettbewerb und Demokratie einander notwendig voraus. Wo Wissen und Können das Privileg ablösen, da herrsche Wettbewerb, wo Privilegien sich entfalten dürfen, sei der Wettbewerb ganz oder weitgehend abgeschafft. Das sei im Feudalismus ebenso der Fall gewesen wie in den kommunistischen Staaten mit ihrer geschützten Nomenklatura.
Der Autor nennt Marx daher einen zweifachen Reaktionär, weil er erstens mit der Verteufelung des Eigentums und zweitens mit der Ablehnung des Wettbewerbs wesentliche Merkmale des Feudalismus übernommen habe. Diesen Fehler habe Marx auch dadurch nicht besser gemacht, dass er die ideale Verwirklichung des Kommunismus als einen utopischen Ausbruch aus aller staatlichen Ordnung verstand, wo das vollkommen befreite Individuum morgens den Jäger, mittags den Fischer und abends den kritischen Kritiker spielt. Das sei etwa so realistisch wie die Behauptung, dass sich unter einem König von Gottes Gnaden sämtliche Konflikte in Nichts auflösen, weil der Herrscher sein Volk ja definitionsgemäß mit einer gottgewollten Ordnung beglücke.
Allerdings würdigt der Autor vorbehaltslos jene Grundforderung von Marx, die er mit den beiden demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts teilt. Es ging Marx um die Bekämpfung der Ungleichheit – mit seiner Vision einer klassenlosen Gesellschaft habe er diesem Bestreben einen theoretisch prägnanten Ausdruck verliehen.
Doch wiederum stellt der Autor auch hier die Frage, ob Marx mit der von ihm propagierten Methode nicht ein drittes Mal reaktionär hinter die Väter der demokratischen Revolutionen zurückgefallen sei? Denn diese Revolutionen hatten in der Praxis eine bestechend einfache Lösung für das Problem der Ungleichheit gefunden: den Wettbewerb und die Zurückdrängung des Privilegs. In dem Augenblick, da alle persönliche Bereicherung ausschließlich auf Wissen und Können beruht, kann sich eine Generationen überdauernde Ungleichheit von vornherein gar nicht entwickeln. Jeder Vorsprung, den ein Mensch vor dem anderen an Wissen und Können besitzt, verschwinde ja spätestens mit dem Ableben dieses Menschen: In jeder Generation würden die Karten deshalb von neuem gemischt. Anderseits sorge der Wettbewerb, sofern er durch ein politisch strikt unabhängiges Kartellamt scharf überwacht wird, verlässlich dafür, dass jeder den eigenen Gewinnvorsprung nur solange aufrechterhalten könne, wie ein anderer diesen Gewinn nicht durch gleiches oder überlegenes Können in Frage stellt. Und damit gelangt unser Autor zu einer Schlussfolgerung, die ich für die bemerkenswerteste seiner Ausführungen halte, manche werden sie vielleicht sogar als aufsehenerregend bezeichnen:
Die klassenlose Gesellschaft ist das voraussagbare Entwicklungsstadium einer Gesellschaft, die ihre Glieder ausschließlich nach Maßgabe von Wissen und Können und eben nicht aufgrund von Privilegien honoriert. Klassen entstehen dort, wo sich Unterschiede unabhängig von Wissen und Können über Generationen verhärten, sie sterben ab, sobald dies nicht länger der Fall sei. Wenn eine solche Entwicklung immer nur begonnen, aber nie zu Ende geführt worden ist, dann weil der Kampf gegen das Privileg bis heute niemals entschlossen genug geführt worden sei.
Diese Behauptungen unseres ikonoklastischen Autors klingen so ungewohnt, dass mancher sie schlicht für abwegig halten wird, zumal da noch ein weiteres Geschütz aufgeführt wird – gegen die Marxsche Verelendungstheorie, die ja auf dem Wettbewerb fußt, diesen also im gegebenen Fall expressis verbis zu einem Übel erklärt. Gemäß dieser innerhalb des Marxschen Lehrgebäudes zentralen Theorie würden die Unternehmer sich gegenseitig zu Tode konkurrenzieren, da jeder seine Produkte zu verbilligen trachte und dadurch das Einkommen der Arbeiter soweit drücke, dass diese zunehmend verarmen und die erzeugten Produkte immer weniger Abnehmer finden. Dies führe dann zwangsläufig an einen Punkt, wo das System aus dem Gleichgewicht gerate und schließlich zusammenbreche.
Karl Popper, so unser kühn dreinschlagender Autor, hätte in der „Offenen Gesellschaft“ gegen dieses Modell bereits ernsthafte Einwände vorgebracht, andere sich ihm darin angeschlossen, dass ein solches Zu-Tode-Konkurrenzieren nur bei gleichartigen Produkten möglich sei, nicht aber auf dem Felde der Innovation, die aber schon zu Zeiten von Marx der eigentliche Motor des Fortschritts gewesen sei.
Der Autor begründet die eigene Ablehnung der Marxschen Verelendungstheorie mit einem, wie ich meine, weit besseren, weil tiefer ansetzenden Argument. Angenommen, alle unsere Geräte vom Staubsauger bis zum Auto würden vollautomatisch erzeugt, so dass am Ende nur eine Handvoll von Arbeitern über den richtigen Betrieb der Herstellungsanlagen wachen, so wären nahezu alle Menschen arbeitslos, die heute noch in den Fabriken beschäftigt sind. Dieselbe Entwicklung, die in der Landwirtschaft dazu führte, dass ein Einzelner heute so viel Nahrung erzeugt wie ein Jahrhundert zuvor an die hundert Menschen, würde sich dann auch im industriellen Sektor ereignen. Aufgrund der Verelendungstheorie von Marx müsste man einen katastrophalen Einkommensverlust befürchten. Die Automation hätte ja letztlich dieselbe Wirkung der Arbeitsvernichtung wie das gegenseitige Niederkonkurrenzieren.
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