2014: Das Jahr der Geldwende – Norbert Rost
Eine vergleichbare Paralyse ist in der geldreformerischen Bewegung auszumachen, seitdem die EZB im Juni 2014 erstmals in der neueren Geschichte Guthabengebühren auf Übernacht-Einlagen der Geschäftsbanken erhob. Auch wenn die von den Journalisten „Negativzins“ genannte Regelung bei gerade mal ‑0,2 % liegt, ist vor allem die psychologische Wirkung des Durchbrechens der Nulllinie enorm. In allen großen und kleinen Gazetten wird über diesen Schritt und seine vordergründigen Auswirkungen berichtet, wenngleich meist mit ablehnendem Unterton und einem Gefühlsspektrum zwischen Verunsicherung und Angst. Geld, das sich nicht mehr selbst vermehrt, sondern im Fall der Nichtnutzung schmilzt – das empört die deutsche Krämerseele. Und auch wenn vorerst nur Skat- und Commerzbank (die bis zu diesem historischen Moment wohl nur selten im selben Atemzug genannt wurden) nur professionelle Geldverwalter mit Übernorm-Liquidität diesem Affront aussetzen, so spürt der sparsame Michel die Geldfresserraupe näher kommen.
Erstaunlich – und auch wieder nicht – ist die Erstarrung jener, die seit Jahren und Jahrzehnten Geldhaltegebühren auf Geld fordern, um das Zinsniveau zu senken, den Geldfluss zu verstetigen und sich allerlei Segnungen von diesem Instrument der Geldpolitik erhofften. Müssten die Zeitungen nicht von wohlwollenden, ermunternden und erklärenden Leserbriefen überquellen? Müssten nicht Kongresse und Publikationen die schon binnen weniger Monate sichtbaren Wirkungen diskutieren und beleuchten und anhand der seit Silvio Gesell durchgewalkten Theorien die kommenden Folgewirkungen vorhersagen?
Dieser Text soll dazu provozieren, das geistige Loch schnell zu verlassen, in das so ein staatliches „Überholen ohne Einzuholen“-Phänomen führen kann. 2014 taucht das europäische Währungssystem erstmals unter die Nulllinie und es dürfen sich alle Verfechter der Idee eines Unter-Null-Zinses selbstbewusst und (dezent) stolz auf die Schulter klopfen: denn zweifellos ist es auch die über 100 Jahre währende Geldreformbewegung, die es den EZB-Geldpolitikern denkbar (und damit durchführbar) gemacht hat, die Zinsen an einer ersten, aber neuralgischen Stelle im Währungssystem unter null Prozent zu senken. Im Grunde sind die Hüter des Geldes damit auf die Seite „der Spinner“ gewechselt, wie die „Creutzianer“ seit langem (insgeheim) betitelt wurden. Doch wie sagte schon Leopold Kohr zu der Betitelung als „Spinner“:
„Das macht mir gar nichts aus, denn ein Spinner dreht ein Spinnrad. Das ist ein billiges Werkzeug, das wenig Kapital erfordert. Es hat ein bescheidenes Anwendungsgebiet, ist unblutig und macht Revolutionen.“
Man muss die Bedeutung des EZB-Aktes auch von einer wissenschaftsskeptischen Seite sehen: Der (neben Bitcoin, Havelblüte & Co.) wohl modernste Akt im Wirtschaftsleben wurde nicht von der etablierten Wirtschaftswissenschaft vorbereitet, sondern insbesondere von Architekten, aber auch vielen anderen, angeblich „fachfremden“ Gewerken. Nun: Noch sind die von so manchen „Gesellianern“ vorhergesagten Entwicklungen einer „umlaufgesicherten Währung“ nicht eingetreten und möglicherweise werden sie es auch nicht in der Form tun, wie es auf manch (naivem?) Wunschzettel steht. Zumal die ersten zwei vorsichtigen Zinssenkungsschritte der EZB noch längst nicht der idealisierten „Freigeld-Idee“ entsprechen. Erst langsam und mit der Trägheit großer Systeme entfalten die 0,2 % Guthabengebühr auf Übernacht-Konten eine Wirkung und setzen sich kaskadenartig in das fraktionierte Banksystem fort. Zuerst waren es die Zinsen am Interbankenmarkt, die der „Einlagefazilität“ hinterhertauchten. Der EONIA-Index, der die Zinsen abbildet, zu denen sich Banken untereinander Geld über Nacht leihen, steht derzeit bei ‑0,019 %.
Die nächste Systemreaktion war die Ankündigung von „Negativzinsen“ auf Kurzfrist-Konten großer Unternehmen wie Lufthansa und E.ON, die Anfang Oktober öffentlich wurde. Dann war es die kleine Thüringische Skatbank, bei der zufällig (oder nicht) der Redakteur der „Humanen Wirtschaft“ als großer Skat-Fan sein Konto führt, die auf Tagesgeld-Volumen größer 500.000 Euro Guthabengebühren einführte (sofern der Anspruchnehmer insgesamt über 3 Millionen Euro an Einlagen verfügt). Zuletzt waren es Commerzbank und die WGZ-Bank, die Vergleichbares für große, kurzfristig gehaltene Guthaben ankündigten; sowie der Linkspartei-Chef Bernd Riexinger, der den Gesetzgeber gegen die „Sparbuch-Steuer für die kleinen Leute“ in Gang setzen möchte und die um sich greifende Guthabengebühr mit Wucherzinsen auf Dispo-Kredite verglich.
Ins „Negativzinssystem“ eingebunden also bislang: EZB, Geschäftsbanken, Großgeldverwalter und Großunternehmen. Aus der Theorie ableitbar wage ich die Vorhersage: Die Volumengrenzen werden sukzessive sinken, die Zahl der Einbezogenen entsprechend steigen. Das allgemeine Zinsniveau schrumpft hinterdrein und die Banken werden neue Produkte mit länger laufenden Fristen, Ratenzahlungsprodukte und Spar-Kredit-Kombi-Produkte anbieten. Die Diskussion um ein Bargeldverbot wird von interessierter Seite bereits geführt und wird (vorerst theoretisch) Überlegungen zu eine Bargeldreform befördern. Wie der Verruf von Euro-Bargeld-Serien ablaufen kann hat die EZB seit Mai 2013 mit der Erneuerung der 5‑Euro-Noten erfolgreich erprobt. Andere reformerische Ideen werden zunehmend diskutiert, vor allem der Vollgeldansatz und der Währungswettbewerb, insbesondere wenn das sinkende Zinsniveau die Finanzbranche in eine ähnliche Bredouille bringt, wie das EEG die Energieversorger: Die Gewinne werden schrumpfen, eine ganze Branche wird sich angesichts eines sich verändernden ökonomischen Fluidums neu erfinden müssen (natürlich nicht ohne zuvor nochmal Heerscharen von Lobbyisten in Bewegung gesetzt zu haben, die durchaus Erfolg haben können). Eine Ackermann’sche Eigenkapitalrendite von 25 % könnte rückblickend als Kuriosum längst vergangener Wachstumszeiten gelten.
Vergessen wir aber nicht, was diesen mutigen, aber in der Praxis eben noch unerprobten Schritt der EZB ausgelöst hat: Eine seit 2007 schwelende Weltfinanzkrise, die in einem Umfeld von Nahe-Null-Wirtschaftswachstumsraten in den gesättigten Industrienationen stattfindet, die in einem seit den 1970ern stagnierenden Pro-Kopf-Energie-Angebot Grenzen des Wachstums spüren. Nur weil die EZB „negativ geht“, wie das Gregory Mankiw 2009 so schön formulierte und in seinem Blog daraufhin auf den Chiemgauer als existierendes Praxisbeispiel verwies, heißt das noch lange nicht, dass unser in energieexpandierenden Zeiten gewachsenes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf alle Herausforderungen vorbereitet ist. Vielmehr gilt: Genau wie in der staatlich gelenkten Energiewende unerwartete (?) Probleme auftauchten, wird wohl auch die Geldwende Überraschungen parat halten. Kritische Mitdenker und Mitmacher wird es zweifellos selbst dann brauchen, wenn die EZB auch ihre anderen Leitzinsen in Richtung Postwachstum schickt.
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