Der Lernort Wuppertal – Holger Kreft

Räume für inne­ren und äuße­ren Wandel – Stel­len Sie sich vor…
An einem schö­nen Spät­som­mer­tag des Jahres 2017 kommen Sie zum ersten Mal an den Lern­ort Wupper­tal, einen Ort zwischen Wald, Wiesen und Feldern außer­halb des dich­ten Sied­lungs­ge­bie­tes von Wupper­tal. Sie haben schon Eini­ges davon gehört und in Publi­ka­tio­nen des lern­or­tei­ge­nen Verlags oder im Inter­net gele­sen. Ihr erster Besuch gilt einer wissen­schaft­li­chen und auch prak­tisch ausge­rich­te­ten Veran­stal­tung dort. Vorab jedoch wollen Sie sich noch einige Ange­bo­te des Ortes zeigen lassen, und Sie wollen verste­hen, was den Ort ausmacht. Sich zur Philo­so­phie des Lern­or­tes zu infor­mie­ren, dazu hatten Sie bisher einfach keine Zeit.

Ange­nom­men, Sie sind dort nun mit einer Freun­din verab­re­det, die am Lern­ort arbei­tet und Sie über das Gelän­de führt. Sie haben zuvor schon von der dorti­gen Frei­licht­büh­ne erfah­ren, die gerade fertig reno­viert worden ist. Dem News­let­ter des Lern­or­tes, den Sie abon­nie­ren, haben Sie entnom­men, dass die Bühne mitt­ler­wei­le an Sommer-Wochen­en­den regel­mä­ßig bespielt wird. Ihre Beglei­te­rin erläu­tert Ihnen beim Blick in das Rund, dass Sie auf der Bühne gerade Proben für ein Stück üben, das bei der Auffüh­rung schließ­lich inter­ak­tiv mit dem Publi­kum gespielt werden soll. Ein großer Teil der Kostü­me sind in einem spezi­el­len Work­shop entwor­fen und geschnei­dert worden. Der Eintritt wird frei sein, weil vorab Spen­der den Aufwand finan­ziert haben. Wenn Sie wollen, werden Sie jedoch mit loka­ler Währung zur Finan­zie­rung später folgen­der Veran­stal­tun­gen beitra­gen können. Oder Sie verbrie­fen mit selbst ausge­stell­ten Gutschei­nen, den „Minu­tos“, Arbeits­bei­trä­ge, die sie später umset­zen werden.

Nach dem Besuch der Frei­licht­büh­ne blicken Sie in Rich­tung des gerade abge­ern­te­ten Feldes, auf dem Sie mehre­re bunt gemisch­te Grup­pen von Menschen bemer­ken, die dort in klei­nen Krei­sen sitzen und offen­bar in Gesprä­che vertieft sind. Andere schei­nen sich mit Bewe­gungs­thea­ter und Tanz zu beschäf­ti­gen. „Das sind alles Teil­neh­mer des drit­ten Semes­ters des Kollegs“, erläu­tert Ihre Beglei­te­rin beiläu­fig. „Die haben im April bei uns angefangen.“

Sie stre­ben gemein­sam zum Haupt­haus, früher bekannt als Silvio-Gesell-Tagungs­stät­te, weil Sie dort nach­her an einem trans­dis­zi­pli­nä­ren Work­shop zum Thema „Alter­na­ti­ve Geld­for­men“ teil­neh­men wollen. Das Geben und Nehmen von Waren, Dienst­leis­tun­gen und gege­be­nen­falls Zahlungs­mit­teln im Rahmen verschie­de­ner Trans­ak­ti­ons­sys­te­me soll kombi­niert wissen­schaft­lich und spie­le­risch erkun­det werden. Die persön­li­chen Wahr­neh­mun­gen der betei­lig­ten Menschen ebenso wie mögli­che Auswir­kun­gen auf Umwelt, Gesell­schaft und Wirt­schaft sollen auch in weite­ren unter­schied­li­chen Forma­ten erlebt und erar­bei­tet werden: Science-Slam-artige Blitz­vor­trä­ge zum Einstieg, dann Struk­tur­auf­stel­lun­gen, Rollen­spie­le mit Hand­pup­pen, szeni­sche Insze­nie­run­gen, Compu­ter­si­mu­la­tio­nen mit Avata­ren, Durch­rech­nen verschie­de­ner Vari­an­ten und Szena­ri­en. Es wurde ange­kün­digt, dass es möglich ist, sich spon­tan in die Schau­spie­le­rei einzu­brin­gen. Sie haben auf diesem Gebiet schon verschie­de­ne Dinge auspro­biert, nun sind Sie aber doch gespannt, ob Sie sich dann tatsäch­lich so unmit­tel­bar betei­li­gen wollen. Warum nicht, wenn es in dem Augen­blick für mich stim­mig erscheint, über­le­gen Sie. Für weite­re Entde­ckun­gen am Lern­ort haben Sie auch noch Zeit; der Programm­be­ginn ist erst für den Abend angesetzt.

Während Sie kurz sinnie­ren, was da wohl auf Sie zukommt, stupst Sie Ihre Beglei­te­rin freund­lich an: „Ich mache dich vorher noch mit eini­gen Freun­den bekannt, die gerade ihr zwei­tes Projekt zur regio­na­len Versor­gung der Tagungs­stät­te mit den Bauern aus der Umge­bung und den verschie­de­nen regio­na­len Initia­ti­ven und loka­len Inter­es­sen­grup­pen konzi­pie­ren.“ Wie sich schnell in mehre­ren Gesprä­chen heraus­stellt, sind unter den Projekt­ent­wick­lern einige „Lebens­mit­tel­ret­ter“, Vertre­ter mehre­rer Urban Gardening-Grup­pen und einer Initia­ti­ve für gesun­des Schu­les­sen. Soge­nann­te „Freie Lerner“ aus dem selbst­or­ga­ni­sier­ten Kolleg des Lern­or­tes sind auch dabei. Alle haben sich im Essraum der Tagungs­stät­te zusam­men gefun­den, um einige Produk­te aus der heimi­schen Land­wirt­schaft und „geret­te­te“ Lebens­mit­tel zu testen. Es ist gerade Mittags­zeit. Daher passt es gerade gut, dass die Akteu­re in die Phase des Würdi­gens und Feierns im Rahmen der etwas ande­ren Projekt­ent­wick­lungs­me­tho­de des Dragon Drea­ming einge­stie­gen sind. Die Grund­zü­ge des Projekt­de­signs wurden am Vormit­tag bereits in der Planungs­pha­se entwi­ckelt. Nun werden Sie herz­lich einge­la­den, sich an der Verkos­tung und dem Gedan­ken­aus­tausch über die Weiter­ent­wick­lung der regio­na­len Erzeu­ger-Genie­ßer-Gemein­schaf­ten zu beteiligen.

Bei dem ausge­zeich­ne­ten Essen macht Ihre Freun­din Sie mit weite­ren Mitwir­ken­den des Lern­or­tes bekannt: „Wenn du noch Zeit hast, kannst du denen ja über die Schul­ter sehen, wie sie in unse­rer Werk­statt Selbst­bau­rä­der zusam­men­mon­tie­ren. Die Räder und das ganze Projekt gehö­ren zu unse­rem neuen sozi­al­ver­träg­li­chen und ressour­cen­scho­nen­den Mobi­li­täts­kon­zept, das wir uns im Früh­jahr gege­ben haben. – Gleich bin ich übri­gens mit Freun­den aus unse­rem Lern­ort-Netz­werk verab­re­det. Wir über­le­gen, wie wir uns durch Zusam­men­ar­beit bei eini­gen Themen in Zukunft stär­ker unter­stüt­zen können. – Wir kommen nach­her auch zu dem Work­shop, den du besu­chen willst. Bis nach­her also!“

Alle ande­ren blei­ben noch in gemüt­li­cher Runde am Tisch sitzen. Jetzt scheint für Sie die Gele­gen­heit gekom­men, um eine Frage loszu­wer­den, die sich Ihnen während Ihres ersten Aufent­hal­tes am Lern­ort mehr und mehr aufge­drängt hat. Mit leich­tem Zögern begin­nen Sie: „Ich bin leicht irri­tiert… Viel­leicht kann mir jemand helfen, etwas zu klären? Seit meiner Ankunft habe ich eine proben­de Schau­spiel­grup­pe gese­hen, dann Menschen, die in Grup­pen tanzen, habe hier von einem Projekt erfah­ren, das die Versor­gung des Lern­or­tes fairer, umwelt­freund­li­cher und regio­na­ler gestal­ten will; ich kann mir nach­her noch anse­hen, wie Selbst­bau­rä­der herge­stellt werden, bevor ich mich dann an einem Work­shop zu alter­na­ti­ven Geld­for­men betei­li­ge, was das eigent­li­che Ziel meines Besuchs darstellt. Das wirkt alles ganz anspre­chend, und Vieles davon finde ich unmit­tel­bar gut und rich­tig. Nur: Wie passt das alles zusam­men? Was ist die Klam­mer, oder der rote Faden?“ Einige am Tisch schmun­zeln. Einer der Ange­spro­che­nen über­legt kurz und ergreift dann das Wort: „Ja, es ist manch­mal nicht ganz einfach, das Konzept des Lern­or­tes gleich im ersten Moment zu begrei­fen. Ich versu­che es so: Eine große Zahl der Mitwir­ken­den hier ist der Meinung, dass Vieles in der Welt besser laufen könnte, wenn wir Menschen uns selbst besser kennen würden und mehr bei uns selbst wären. Dann wären wir auch näher bei unse­ren Mitmen­schen und unse­rer sons­ti­gen Mitwelt. Wir würden wahr­schein­lich weni­ger versu­chen mit Macht­ge­ha­be und Konsum unsere Unsi­cher­heit und unsere ‚Sinn-Löcher’ zu kompen­sie­ren oder von ihnen abzu­len­ken. Dann würden wir auch unsere tech­ni­schen, sozia­len und ökono­mi­schen Einrich­tun­gen und Syste­me, die gesam­ten Infra­struk­tu­ren, die unser Leben unter­stüt­zen, aber teil­wei­se auch sehr nach­tei­lig bestim­men, darun­ter etwa unsere Verkehrs­sys­te­me, anders ‚stri­cken’. Wahr­schein­lich auch das Geld – oder genau­er: seine Verfasst­heit – mit dem wir – jeden­falls die meis­ten von uns – tagtäg­lich umge­hen. Zum großen Teil läuft es bei uns auf wenige entschei­den­de Fragen hinaus, die wir uns hier mehr oder weni­ger ausdrück­lich und immer wieder stel­len: Wer bin ich eigent­lich? Was will ich in meinem Leben? Was kann ich geben; was sind meine Gaben? Wie kann ich diese Gaben zu meinem eige­nen Wohl, zum Wohl der Gemein­schaft und zum Wohl des großen Ganzen am besten einset­zen? Daran schließt sich noch die Frage an: Wie kann ich gege­be­nen­falls Verhal­tens­mus­ter, Prägun­gen oder Kondi­tio­nie­run­gen, die mich dabei einschrän­ken, am besten auflö­sen, bewäl­ti­gen oder umge­hen?“ Er rundet die Erklä­rung des Lern­or­tes für Sie mit den folgen­den Worten ab: „Es geht also um eine Art Selbst­ent­de­ckung ohne den Zwang zur Selbst­op­ti­mie­rung – und zugleich um die prak­ti­sche Verän­de­rung der Rahmen­be­din­gun­gen, die uns oft unnö­tig und biswei­len dras­tisch been­gen und für die Erhal­tung dessen, was uns guttut. Und zwar dadurch, dass wir uns sehr bewusst mit den eige­nen Begren­zun­gen in uns ausein­an­der­set­zen und dann Neues auspro­bie­ren und dies, wenn es passt, einüben.“

Sie wissen noch nicht genau wie, aber die soeben gehör­ten Worte finden in Ihnen Reso­nanz. Sie beschlie­ßen, sie erst einmal sacken zu lassen, um nun Ihre Aufmerk­sam­keit ausschließ­lich auf das eigent­li­che Ziel Ihres Lern­ort­be­su­ches zu fokus­sie­ren – auch wenn Sie ahnen, dass diese gerade gehör­ten Zusam­men­hän­ge Sie gleich schon wieder einho­len werden…

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