Die Boomer rollen an die Rentenkasse – Editorial
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Die Boomer rollen an die Rentenkasse- – -
Ich bin ein „Baby-Boomer“. Zwischen 1955 und 1969 Geborene bezeichnet man in Deutschland so. In anderen Ländern differieren die Jahrgänge ein wenig, weil die Auswirkungen des 2. Weltkriegs unterschiedlichen Einfluss auf die Fertilität, die Fruchtbarkeit der jeweiligen Landesbevölkerung hatten. Jedenfalls stieg mit der Hoffnung auf dauerhaften Frieden auch die Zahl der Kinder stark an. Zwischen 1950 und 1972 wuchs die deutsche Bevölkerung dadurch um rund 10 Millionen Menschen. Dann kam der sogenannte Pillenknick und seither übersteigt hierzulande die Zahl der Todesfälle diejenige der Geburten. Meine Generation hat es unserer Elterngeneration also nicht gleichgetan und in ähnlichem Maße wie diese Familien mit Kindern gegründet. Dafür hatten wir keine Zeit, denn es gab viel zu tun und die Annehmlichkeiten eines ungezwungenen Lebens mit Karriere und zwei Einkommen ließen sich nicht einfach mit den Anforderungen vereinen, die auf Eltern zukommen. Ausnahmen, wie ich selbst eine bin, bestätigen die Regel.
– - ‑Und warum langweile ich Sie mit dieser landläufig bekannten Tatsache?
Die Boomer erreichen das Rentenalter! Sie müssen mit Altersbezügen der Nachkommen versorgt werden. Unser gesetzliches Rentensystem ist auf einem sogenannten Generationenvertrag aufgebaut. Die Rentenbeiträge, die man während eines Arbeitslebens einbezahlt, liegen nicht etwa auf einem Sparkonto oder in einer Schatzkiste im Bundestag. Sie sind weg. Längst verbraucht. Jeden Monat reicht die Rentenkasse die eingenommenen Beiträge der Arbeitenden direkt weiter an die aktuellen Rentnerinnen und Rentner. Es gibt eine kleine Barreserve von knapp 40 Milliarden Euro in der „Portokasse“ der Deutschen Rentenversicherung, was den Rentenauszahlungen von rund 1‑½ Monaten entspricht. Nichts, worauf man eine Langfristplanung aufbauen könnte.
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Der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm richtete 1986 seinen berühmten Ausspruch an alle, die Zweifel an der langfristigen Sicherheit des Rentensystems hatten: „Die Rente ist sicher!“ Ich durfte ihn lange nach seiner Amtszeit als Arbeitsminister (1982 – 1998) in seinem Büro in Königswinter besuchen. Das war 2006, im ersten Jahr meiner Tätigkeit als Redakteur dieser Zeitschrift. Auf sein geflügeltes Wort angesprochen, sagte er mir damals:
„Ich kenne kein klügeres System als ein Umlagesystem, in dem die Jungen für die Alten bezahlen. Das ist auch keine Erfindung der Moderne. So war das immer schon. Solange die Menschen leben, haben die Jungen für die Alten gesorgt. Kein System kann dies außer Kraft setzen. In diesem Zusammenhang erzähle ich gerne die Geschichte von Johann Peter Hebel: Der Fürst fragt den Bauern: ‚Was machst du denn mit deiner Ernte?‘ Da sagt der Bauer: ‚Mit einem Drittel zahle ich meine Schulden ab, mit einem Drittel gewähre ich Kredit und ein Drittel verbrauche ich.‘ ‚Wie das?‘, fragt der Fürst. ‚Ganz einfach‘, sagt der Bauer, ‚meinen Kindern gewähre ich Kredit, meinen Eltern zahle ich die Schulden des Kredites ab, den sie mir gewährt haben, und den Rest verbrauche ich‘. Diese kleine Geschichte offenbart das ganze Geheimnis des Generationen-Vertrages.“
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Die Früchte der Arbeit werden im Wirtschaftsleben ununterbrochen „geerntet“. Nur scheint uns im Laufe der Zeit als Gesellschaft die generationenübergreifende Verbundenheit verlorengegangen zu sein. Den Berufstätigen wird eingeredet, sie könnten sich nicht mehr auf das seit 134 Jahren funktionierende System verlassen. Man müsse vermehrt für sich selbst vorsorgen, wenn man im Alter noch von einer Rente zehren wolle. In aller Regel kommen derlei Appelle direkt oder indirekt von Branchenvertretern und Expertinnen, die den Kapitalmarkt repräsentieren. Ihre immer gleichlautende Geschichte von der Rente, die zum Leben nicht ausreiche, hat Sprach- und Denkzäune errichtet, neudeutsch: ein Framing erzeugt. Damit wird zunehmend Misstrauen gegenüber dem Umlagesystem geschürt.
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Die Schaffenskraft der Gemeinschaft ist ein nie versiegender Quell für immer wieder frische Ernten. Private Vorsorge bedeutet, davon etwas bei Dritten „einzulagern“, mit der latent drohenden Gefahr von Verlusten bis hin zu Totalausfällen. Seit 1889 geschah das mindestens dreimal (Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege) für alle Sparer; betrachtet man einzelne Anlegergruppen, waren Vermögensverluste wegen Pleiten von Geldhäusern noch häufiger. Hinsichtlich Aktien‑, Renten- und Kapitalmarktfonds hegt man die Hoffnung, nicht nur das Einbezahlte zurückzubekommen, sondern darüber hinaus einen erklecklichen Zinsgewinn. Skeptiker der gesetzlichen Rente entziehen – zumindest teilweise – der staatlich organisierten Gemeinschaft das Vertrauen. Stattdessen schenken sie es Akteuren am Kapitalmarkt und deren Versprechen. Man glaubt ihren Zusagen, wonach sie das Geld vermehren würden. Für mich ist die Ausbreitung des Misstrauens gegenüber den Errungenschaften des Sozialwesens ein Zeichen dafür, dass wir uns isolieren, entsolidarisieren und die Gesellschaft auseinanderdriftet. Das geht einher mit der Auffassung, man könne die Herausforderungen der Zukunft besser alleine und unabhängig von der Solidargemeinschaft meistern. Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen immmer noch glauben, man könne Renditen ohne eigene Leistung erzielen. Und das, obwohl die verheerenden weltweiten Auswirkungen des Kapitalismus offensichtlich sind. Der Mangel an Offenheit zu Dialogen über radikale Reformen zur Rettung von Umwelt und Menschlichkeit lässt sich sowohl für den Wissenschaftsbereich als auch die Politik feststellen. Ideen jenseits des Lehrbuchwissens werden mit der Phrase abgelehnt, die Reformvorschläge seien nicht durchführbar und entbehrten jeglichen Nachweises in der Praxis. Der allerdings längst erbrachte Nachweis, das ein „Weitermachen wie bisher“ nur Ergebnisse liefert, die niemand will, reicht nicht als Argument für grundlegende Änderungen. Es wäre zum Verzweifeln, wenn es nicht Menschen gäbe wie sie, liebe Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift, die diese Zusammenhänge durchschauen.
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Danke für Ihre Treue.
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Herzlich grüßt Ihr
Andreas Bangemann
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