Das Genie als Prophet – Gero Jenner

Er hätte ein typi­scher Vertre­ter des Prole­ta­ri­ats sein können, denn er gelang­te in seinem Leben nie über Gele­gen­heits­ar­bei­ten als Ernte­hel­fer und Hafen­ar­bei­ter hinaus und hatte in seiner Jugend nicht einmal die Schule besu­chen können. Anders gesagt, hätte Eric Hoffer für Marx ein Para­de­bei­spiel für den Typus Mensch abge­ben müssen, dessen Klas­sen­be­wusst­sein allein durch das Sein bestimmt wird. Aber dieser Sohn eines einfa­chen ausge­wan­der­ten Tisch­lers, der wie viele andere Deut­sche gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts sein Land verlas­sen hatte, um sein Glück in den USA zu versu­chen, wider­legt auf spek­ta­ku­lä­re Art die von Marx behaup­te­te Abhän­gig­keit von Bewusst­sein und Sein. Dieser schein­ba­re „Prolet“ redete keines­wegs über die Härte seines persön­li­chen Schick­sals, er begehr­te über­haupt nicht auf, sondern sann über den Entwick­lungs­gang der Staa­ten und jener Männer nach, die ihren Gang maßgeb­lich bestim­men. Dieser einfa­che Arbei­ter, mindes­tens eine halbe Woche damit beschäf­tigt, genug Geld für das eigene Über­le­ben zusam­men­zu­krat­zen, verbrach­te die zweite Hälfte der Woche damit, in unstill­ba­rer Wiss­be­gier die Welt­li­te­ra­tur zu durch­fors­ten und über Dinge zu grübeln, die mit seinem eige­nen Leben so gut wie nichts zu tun hatten. Wenn man die Fähig­keit, nur an andere zu denken und dabei ganz von den eige­nen Bedürf­nis­sen abzu­se­hen, manchen Heili­gen der Vergan­gen­heit zuer­kennt, dann gilt diese Quali­tät ganz beson­ders für Eric Hoffer: den heili­gen Proletarier.
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Hoffer selbst hat die eigene Geis­tes­ver­wandt­schaft nicht mit ande­ren Ange­hö­ri­gen der eige­nen Klasse gese­hen, sondern mit einem fran­zö­si­schen Adli­gen, dem grübeln­den Philo­so­phen Michel de Montai­gne. Der Gegen­satz könnte nicht größer sein: Hier der für den eige­nen Unter­halt schwer arbei­ten­de Prole­ta­ri­er, dort der Mann, dem schon die Geburt eine heraus­ra­gen­de gesell­schaft­li­che Stel­lung gesi­chert hatte. Aufgrund seines Reich­tums verfüg­te Montai­gne über genug Muße, um frei von aller Partei­lich­keit, von aller Eife­rei und von allen Bekeh­rungs­ge­lüs­ten jene Über­le­gun­gen über die mensch­li­che Natur anzu­stel­len, die noch heute mit Stau­nen und Bewun­de­rung erfül­len. Aber Hoffer ist viel näher an unse­rer Gegen­wart – er starb erst 1983. Was dieser Mann uns in seinem berühm­ten Erst­lings­werk „The True Belie­ver“ (Der Fana­ti­ker) zu sagen hat, und zwar in Form von verblüf­fen­den Apho­ris­men und psycho­lo­gisch tief­sin­ni­gen Räson­ne­ments, ist zugleich zeit­los und aktu­ell. Es hinter­lässt sofort den Eindruck, dass sich hier – um in Nietz­sches Worten zu reden – ein freier Geist, ein beson­de­res Genie offen­bart. Denn Hoffer ist alles zugleich: ein bis in die schwär­zes­ten Winkel der mensch­li­chen Seele ohne jede Scheu hinab­bli­cken­der Psycho­lo­ge und ein erbar­mungs­los sezie­ren­der Wissen­schaft­ler, der den Menschen als sozia­les Herden­tier unter­sucht. Mit ande­ren Worten, ein über­ra­gen­der Sozio­lo­ge und Poli­to­lo­ge, für dessen gerade einmal 170 Seiten umfas­sen­des Buch man getrost ganze Biblio­the­ken aus der Feder durch­schnitt­li­cher Vertre­ter dieser beiden Fächer hinge­ben mag.
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Da dieser Mann in linken Diskus­si­ons­fo­ren nicht einmal erwähnt wird, wage ich zu behaup­ten, dass man sein Porträt, von seinen Schrif­ten ganz zu schwei­gen, weder in den Partei­zen­tra­len findet noch bei den Jüngern des linken Lagers. Die Frage ist, warum? Muss diese Tatsa­che nicht über­aus merk­wür­dig erschei­nen, wenn man bedenkt, dass Eric Hoffer wie kein ande­rer den „denken­den Prole­ta­ri­er“ reprä­sen­tiert, während Marx, Engels, Lass­alle, Kaut­sky oder Tuchol­sky nicht einmal Arbei­ter, geschwei­ge denn Prole­ta­ri­er waren, sondern alle­samt einem teil­wei­se recht wohl­ha­ben­den Bürger­tum entstamm­ten – eine Zuge­hö­rig­keit, die nach ortho­do­xer Lehre ihr Klas­sen­be­wusst­sein doch von vorn­her­ein verfälscht haben musste? Warum hat man wider­spruchs­los akzep­tiert, dass sich Spröss­lin­ge aus dem Bürger­tum anma­ßen durf­ten, über Wesen und Schick­sal der Unter­schicht zu befin­den, die ihnen im Grunde doch ganz fremd sein muss­ten, während ein Mann wie Hoffer, der ein Leben lang dieser Schicht zuge­hör­te, für die Linke bis heute so gut wie nicht existiert?
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Dafür gibt es einen einleuch­ten­den Grund: Hoffer ist ein Mann der Gerech­tig­keit, aber die Ideo­lo­gen aller Couleur führt er schlicht und mühe­los ad absur­dum. Die Provo­ka­ti­on beginnt schon damit, dass er – ganz wie Hannah Arendt, aber völlig unab­hän­gig von ihr – keinen Unter­schied zwischen linken und rech­ten Fana­ti­kern (den „true belie­vers“) macht. Doch endet die Heraus­for­de­rung keines­wegs bei dieser Einsicht; tatsäch­lich geht Hoffer noch sehr viel weiter als Hannah Arendt (die übri­gens in einem Brief an Karl Jaspers auf über­schwäng­li­che Weise von ihm sprach, nach­dem es 1955 zu einer Begeg­nung mit dem damals 53-jähri­gen Hoffer gekom­men war). Für Hoffer steht fest, dass der Fana­tis­mus der Welt­ver­bes­se­rer seine Wurzeln in persön­li­cher Unzu­läng­lich­keit hat: wer ein erfüll­tes Leben führt, weil er fähig ist, das eigene Sein krea­tiv zu gestal­ten, der habe kein Inter­es­se am Umsturz der bestehen­den Ordnung. „Der Glaube an eine heili­ge Sache ist in hohem Maße ein Ersatz für den verlo­re­nen Glau­ben an uns selbst.“ Der „Frus­trier­te“ proji­zie­re sein eige­nes Versa­gen in Welt und Gesell­schaft, die er eben deshalb radi­kal ändern will. Dies sei der Grund, warum man so oft geschei­ter­te Künst­ler unter den heftigs­ten Vernei­nern der herr­schen­den Zustän­de finde. Hitler versuch­te sich erfolg­los als Maler und Archi­tekt, Goeb­bels als Drama­ti­ker, Roman­cier und Dich­ter, Schi­rach als Dich­ter, Funk in der Musik, Strei­cher in der Male­rei. Marat, Robes­pierre, Lenin, Musso­li­ni und Hitler seien heraus­ra­gen­de Beispie­le für Fana­ti­ker aus den Rängen nicht-krea­ti­ver Männer des Worts.
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Nicht genug mit dieser erbar­mungs­lo­sen psycho­lo­gi­schen Tiefen­ana­ly­se, geht Hoffer noch einen Schritt weiter. Auf die jewei­li­ge Ideo­lo­gie einer Bewe­gung komme es ohne­hin in den seltens­ten Fällen an. Was die Leute wirk­lich wollen und was ihnen die fana­ti­schen Führer von rechts und links tatsäch­lich geben, sei das Gefühl „dazu­zu­ge­hö­ren“, auszu­bre­chen aus der uner­träg­li­chen Isolie­rung des eige­nen Selbst, aus der Unzu­frie­den­heit mit dem eige­nen unschein­ba­ren oder verhass­ten Ego, um in einem Größe­ren und Umfas­sen­den aufzu­ge­hen: einer Bewe­gung. Die jewei­li­ge Ideo­lo­gie sei eher Neben­sa­che, sie habe keine andere Funk­ti­on als die einer Fahne, unter der die Gläu­bi­gen sich versam­meln. Deswe­gen habe Hitler nur die Intel­lek­tu­el­len, die Skep­ti­ker und Libe­ra­len wirk­lich gehasst, während er in Stalin einen Gesin­nungs­ge­nos­sen erblick­te. Bekehr­te Kommu­nis­ten, so seine Weisung, könne man sofort in die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Partei aufneh­men. Wir dürfen daher behaup­ten, dass Hitler selbst sich schon vor Hannah Arendt und Eric Hoffer der geis­ti­gen Nähe und Austausch­bar­keit der Fana­ti­ker von Links und Rechts deut­lich bewusst war!
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