Wie Zinssätze das Einkommen umverteilen – Blair Fix
Übertragung ins Deutsche von Andreas Bangemann
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„Zinssätze sind in erster Linie eine Verteilungsvariable, die sich auf die Einkommensanteile der verschiedenen sozialen Gruppen auswirkt.“
– Louis-Philippe Rochon & Mark Setterfield (2007)
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Bei Aufsätzen über Geldpolitik habe ich eine Faustregel.
Jedes Mal, wenn der Begriff „Zins“ auftaucht, ersetze ich ihn durch den Begriff „Arbeitslohn“. Dann prüfe ich, ob die weiteren Ausführungen noch einen Sinn ergeben. Das ist selten der Fall. Der Grund, weshalb ich diese Begriffe ersetze, ist, dass Zinsen und Lohn eine Gemeinsamkeit haben: Es sind beides Renditen. Löhne sind die Rendite aus Beschäftigung. Der Zins ist die Rendite aus Kreditgeschäften.
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Das Wichtige an den Renditesätzen ist, dass ihre Veränderungen Auswirkung auf die Einkommensverteilung haben. Erhöht man die Löhne, dann fließt mehr Einkommen an die Arbeitenden. Erhöht man den Zinssatz, erhalten die Gläubiger mehr Einkommen. Die Einzelheiten dieser Umverteilung lassen sich erforschen. Aber per Definition sind Renditen „Verteilungsvariablen“ – sie bestimmen, wie der Einkommenskuchen aufgeteilt wird.
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Zurück zu meiner Wortsubstitution. Wenn es um Löhne geht, steht die Frage der Verteilung in der Regel im Vordergrund. Deshalb klagen die Unternehmen (und viele Ökonomen) über Gewinneinbußen, wenn von einer Erhöhung der Mindestlöhne die Rede ist.
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Aber wenn die Gläubiger die Zinsen erhöhen, spricht man seltsamerweise nicht über die Einkommensverteilung. Stattdessen hören wir eine Flut von makroökonomischen Begriffen wie zum Beispiel „natürlicher Zinssatz“ und „die Inflation nicht beschleunigende Arbeitslosenquote“ (NAIRU – Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment)
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Wie kommt es zu dieser Diskrepanz? Eine Möglichkeit ist, dass die Ökonomen etwas wissen, was wir nicht wissen. Vielleicht verfügen sie über Fakten und Beweise, die sie zu der Schlussfolgerung veranlassen, dass sich die Zinssätze „neutral“ auf die Einkommensverteilung auswirken.
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Eine andere Möglichkeit ist, dass die Fachsprache der Makroökonomie nur eine Ablenkung ist. Mit anderen Worten: Wie die Lohnquote ist auch der Zinssatz eine „Verteilungsvariable“. Aber diese Variable wird von den Mainstream-Ökonomen lieber ignoriert.
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Welche Option ist also die richtige? In diesem Beitrag lasse ich die Beweise für sich sprechen.
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Betrachtet man länderübergreifende Daten, so zeigt sich, dass die Zinssätze eindeutig nicht neutral sind. Wenn die Zinsen steigen, geschehen drei Dinge:
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Der Anteil der Zinsen am Einkommen steigt
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Der Anteil der Arbeit am Einkommen sinkt
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Die Einkommensungleichheit nimmt zu.
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Kurz gesagt, die Beweise deuten darauf hin, dass die Zinssätze eine Schlüsselrolle im Klassenkampf spielen. Und das macht Sinn. Schließlich sind Zinsen eine Rendite. Und weil nach der Aufteilung des Einkommenskuchens nichts übrigbleibt, sind die Renditen immer eine Nullsumme.
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Wie die Ökonomen lernten, die Einkommensverteilung zu ignorieren
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Bevor wir uns den Daten zur Einkommensverteilung zuwenden, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Unter alternativen Ökonomen ist die Einkommensverteilung ein heiß diskutiertes Thema. Bei den etablierten Ökonomen spielt sie jedoch nach wie vor eine untergeordnete Rolle. – - -
Warum?
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Um diese Gleichgültigkeit zu verstehen, müssen wir den Weg des ökonomischen Denkens zurückverfolgen. Als das Studium der politischen Ökonomie im 19. Jahrhundert aufkam, stand die Einkommensverteilung im Mittelpunkt des Interesses. Für die frühen politischen Ökonomen war das Klasseneinkommen ein wichtiges Thema. Warum erhielten Grundbesitzer, Kapitalisten und Arbeiter ihren jeweiligen Anteil? Diese Frage war so entscheidend, dass David Ricardo sie als das „Hauptproblem der politischen Ökonomie“ bezeichnete.
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Im Laufe des 19. Jahrhunderts erkannten Denker wie Karl Marx und Henry George einen offensichtlichen Konflikt bei der Verteilung von Einkommen . Wenn beispielsweise Alice, die Arbeiterin, und Bob, der Kapitalist, beide 60 % des Kuchens haben wollen, kann nur einer von beiden seinen Willen durchsetzen. Mit anderen Worten: Der Nullsummencharakter des Klasseneinkommens macht einen Klassenkampf notwendig. Oder besser: Er macht Klassenkampf notwendig, wenn die verschiedenen Klassen mehr wollen, als sie derzeit bekommen.
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An dieser Stelle kommt John Bates Clark ins Spiel. Clark erkannte die Instabilität, die Klassenkämpfe mit sich bringen, und wollte zeigen, dass Konflikte unnötig sind. Dazu fand er einen genialen Weg. Mit ein paar einfachen Annahmen „bewies“ Clark, wie in einem Wettbewerbsmarkt die Akteure den Wohlstand zurückbekommen, den sie selbst geschaffen haben.
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Die Theorie der „Grenzproduktivität“ war geboren: Jeder verdient, was er verdient. Die Botschaft? In einer Marktwirtschaft gibt es keinen Klassenkampf.
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Natürlich beruht Clarks Theorie auf offensichtlich falschen Annahmen. (Zum Beispiel geht er davon aus, dass die Gesellschaft eine einzige Ware produziert.) Die eigentliche Frage ist also, warum sich die Ökonomen auf eine Theorie geeinigt haben, die offensichtlich falsch ist.
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Meine Meinung dazu:
Erstens sagte Clarks Theorie der Grenzproduktivität den Mächtigen, was sie hören wollten – nämlich, dass die Einkommensverteilung „gerecht“ sei.
Zweitens passte Clarks Ansatz gut in die aufkommende Besessenheit nach Wirtschaftswachstum. In der Mitte des 20. Jahrhunderts stellten die Ökonomen fest, dass sie das Wirtschaftswachstum mit Hilfe einer Produktionsfunktion „erklären“ konnten, wenn sie die gesamte Gesellschaft wie ein einziges Unternehmen behandelten. In dieser Funktion wurde nicht nur angenommen, dass jede Klasse ihr „Grenzprodukt“ verdient, sondern auch, dass ihr Anteil am Einkommen konstant ist. Mit anderen Worten: Bei der Modellierung des Wirtschaftswachstums konnten die Ökonomen die Einkommensverteilung als unwichtiges Element behandeln. Und das taten sie auch.
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Der größere Hintergrund ist natürlich die massive Steigerung des Ressourcenverbrauchs durch die Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Phänomen, das nichts mit den Modellen der Ökonomen zu tun hatte, aber sehr viel mit der Ausbeutung fossiler Brennstoffe. Aber wie alle anderen haben auch die Ökonomen diese Entwicklung mitgemacht. Und so wurden sie vom Wirtschaftswachstum besessen und lernten, die Einkommensverteilung zu ignorieren.
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