Was man in der „Stunde Null“ ersann – Pat Christ
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Wie wir wirtschaften, schadet der Umwelt und verstößt allzu oft gegen Menschenrechte. Es ist häufig nicht nachhaltig, nicht gesund und nicht sozial. Hier wollen Akteure aus Würzburg gegensteuern. Sie entwickeln gerade ein Online-Lehrmodul mit dem Titel „Nachhaltiges Unternehmertum und Soziale Marktwirtschaft“. Es soll ab 2021 Studierende der Wirtschaftswissenschaften an der Würzburger Hochschule (FHWS) sowie alle anderen Interessierten in Sachen „Werte“ und „Ethik“ bilden.
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Es geht nicht direkt darum, eine Lösung des Problems „Turbokapitalismus“ zu versuchen, sagt Matthäus Wassermann, der das Projekt leitet. Studierende, aber auch interessierte Laien sollen vielmehr angeregt werden, über Werte nachzudenken. Sie sollen über ihre eigene Wertebasis reflektieren und auf diese Weise zu einer wirtschaftsethischen Grundhaltung gelangen. „Wir wollen für eine wertefundierte Haltung werben“, führt der Hochschulpfarrer der Evangelischen Studentengemeinde (esg) Würzburg aus. Unter anderem soll dies dadurch geschehen, dass die Kursteilnehmer mehr über die vergessenen Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland erfahren.
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In dem Kurs lernen sie Männer kennen, die sich über eine Neuregelung des Wirtschaftssektors Gedanken gemacht haben, als Deutschland noch fest in den Klauen der NS war. In sogenannten „Freiburger Kreisen“ trafen sich ab Ende 1938 stark im christlichen Glauben verwurzelte Unternehmer und Professoren der Freiburger Universität, um sich mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen. Der Brand der Synagogen im November 1938 war Anlass für das erste Treffen gewesen. „Man wusste gar nicht, wie man mit dem, was da geschehen war, umgehen sollte, und rang um Antworten“, sagt Wassermann.
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Das Naziunwesen stießt in diesem Kreis auf heftige Kritik, und doch wusste man nicht, was man tun sollte. „Es wurde darüber diskutiert, inwieweit man überhaupt Widerstand leisten durfte“, so der Theologe. Heute erscheint das fast absurd. Doch als tief gläubige Christen hatten die Angehörigen der Freiburger Kreise sozusagen ein „Werteproblem“. Für sie war die Bibel ein unumstößliches Wertefundament. Nun steht im Kapitel 13 des Briefs an die Römer: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt.“ Diese Sätze irritierten die Männer damals zutiefst.
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Nach der „Stunde Null“
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Die „Freiburger Kreise“ trafen sich bis Oktober 1944. In den sechs Jahren, in denen sie existierten, kam es zu einer Begegnung, aufgrund derer die Zusammenkünfte bis heute relevant sind: Im Herbst 1942 besuchte Dietrich Bonhoeffer Mitglieder der Kreise. Er forderte die Wissenschaftler auf, eine Sozial- und Wirtschaftsordnung für die „Stunde Null“ zu entwerfen. „Die Männer um Bonhoeffer wussten, dass das, was sie nun taten, Hochverrat war, dennoch taten sie es unter Lebensgefahr“, so Wassermann.
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Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurden auch einige von ihnen, nämlich Constantin von Dietze, Adolf Lampe und Gerhard Ritter, von der Gestapo verhaftet, in Berlin eingesperrt und zum Tod durch Erschießen verurteilt. Das Kriegsende rettete die drei. Wassermann: „An dem Tag, als die Rote Armee in Berlin einmarschierte, wurden vormittags noch andere zum Tode Verurteilte erschossen, die drei jedoch nicht.“ Warum, sei nicht mehr zu rekonstruieren. Auf jeden Fall kamen Constantin von Dietze, Adolf Lampe und Gerhard Ritter im Mai 1945 frei und konnten sich aktiv an Verhandlungen mit den Alliierten über eine neue Wirtschaftsordnung in Deutschland beteiligen.
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Das damals erdachte System pervertierte mit der Zeit zumindest in Teilen zur Plutokratie: Was sich hinter den Kulissen von Unternehmen abspielt, siehe Wirecard, hat mit sozialer Marktwirtschaft mitunter nicht mehr das Geringste zu tun. Der Hunger nach Gewinnen und Renditen kann so groß sein, dass alle anderen Werte auf der Strecke bleiben. Bestes Beispiel sind aktuell auch Wohnungskonzerne, von denen die Wohnungsnot gnadenlos ausgenutzt wird. Studierende und andere Interessierte, die das derzeit in Würzburg entwickelte Lehrmodul durchlaufen haben, sind im besten Fall hinterher „immun“ gegen turbokapitalistische Versuchungen, weil ihnen ethische Werte wichtig sind.
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Frei, aber fair
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„Soziale Marktwirtschaft“ ist für Matthäus Wassermann der Inbegriff eines freien, im Wettbewerb allerdings fairen Marktes, in dem soziale Härten abgefedert werden. Dass in Deutschland die Pole „arm“ und „reich“ inzwischen drastisch auseinanderfallen, zeigt für ihn, „dass wesentliche Grundintentionen und ethische Überzeugungen der Gründungsväter nicht mehr präsent sind und ihre Prägekraft verloren zu gehen droht“. Das wiederum sei nicht allzu sehr verwunderlich: „Betrachtet man die Curricula von Wirtschaftshochschulen, so fällt auf, dass Studierende nur selten mit einem werteorientieren Zugang zur Sozialen Marktwirtschaft in Berührung kommen.“
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Wenn es nur noch darum geht, das Quartalsergebnis zu steigern, stimmt etwas nicht. Wenn Manager vollkommen besessen sind vom Aktienkurs, läuft etwas gewaltig schief. Vor allem sind solche Verhaltensweisen laut Wassermann unvereinbar mit dem Wertefundament, das der Sozialen Marktwirtschaft, sieht man sich ihre Entstehungsgeschichte an, zugrunde liegt. Für den Theologen ist die Soziale Marktwirtschaft mit ihrer werteethischen Perspektive grundsätzlich geeignet, „zu gemeinwohlorientiertem und nachhaltigem Wirtschaften anzuregen und anzuleiten“.
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Inzwischen gibt es Ideen in Hülle und Fülle, wie man anders wirtschaften könnte. Das reicht von der Gemeinwohl-Ökonomie über Konzepte im Sinne von Buen Vivir bis zu Ideen der „Care Revolution“ und Strategien des Postwachstums. Im Vergleich dazu hört sich „Soziale Marktwirtschaft“ direkt hausbacken an. Spannend wird dieses Konzept für Matthäus Wassermann, wenn man seine historischen, philosophischen, theologischen, wirtschaftsethischen und politischen Aspekte einmal näher beleuchtet. Ziel des Online-Kurses sei es denn auch, auf wissenschaftlich hohem Niveau einen werteorientieren und multiperspektivischen Zugang zu ermöglichen.
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Ein Projekt für Weltretter
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Viele Studenten wollen heute mithelfen, die Welt vor der Vernichtung zu retten. Das macht den Kurs für den Studierendenpfarrer so aktuell. Angesichts drängender sozialer Fragen und drohender ökologischer Katastrophen wird es laut Wassermann immer wichtiger, ethische und am Gemeinwohl orientierte Aspekte des Wirtschaftens zu thematisieren. In der Evangelischen Studierendengemeinde geschieht dies seit längerem – gerade auch in der Zusammenarbeit mit der Würzburg Fachhochschule. So geht der Online-Kurs aus dem gemeinsamen Projekt „Spiritualität in der Managementpraxis“ hervor, das im Herbst 2017 auf den Weg gebracht worden war.
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Das neue Projekt soll Mut machen und Hoffnung geben, dass es möglich ist, anders zu wirtschaften. Jeder Student soll am Ende für sich persönlich eine Idee entwickeln, wie er später einmal ein Unternehmen ethisch führen könnte. Die Lehrveranstaltung selbst wird voraussichtlich ab dem Sommersemester 2021 angeboten. Und zwar auf freiwilliger Basis. Alles andere wäre für Matthäus Wassermann auch absurd. Denn Werte kann man niemandem aufzwingen. Nur wer für ethische Ideale brennt, kann darangehen, für sich Konzepte zu erstellen, die ethisches Verhalten mit Blick auf die Umwelt, auf andere Menschen und die Gesellschaft unter den gegebenen Bedingungen möglich machen.
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Viele haben mitgewirkt, um Studierenden eine andere Sichtweise des Wirtschaftens zu geben. Neben Volkswirten sind Medienmanager, Historiker, Theologen, Philosophen und Ethiker aus Deutschland und Schweden an der Entwicklung der einzelnen Module beteiligt. Wassermann ist nicht nur Koordinator der Initiative: Er wird auch inhaltlich mitwirken. „Christliche Spiritualität als Kraftquelle für Unternehmer – Beispiele und Vorbilder gelebter Spiritualität“ heißt der Baustein, den er anbieten will. Dabei will er unter anderem Nicola Leibinger-Kammüller, mit dem „Fairness-Preis“ ausgezeichnete Geschäftsführerin des Maschinenbauers „Trumpf“, vorstellen.
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Spannend wird sein, ob man später eine Veränderung im Verhalten feststellen kann: Entscheiden sich Studierende, die das Modul durchlaufen haben, zum Beispiel häufiger als Firmenchef für Ökostrom als ihre Kommilitonen, die keine Wertebildung erhielten? Steigen erstere öfter in Sozialsponsoring ein und wenden sie sich gegen ausbeuterische Leiharbeit? Werden sie alles versuchen, um die Menschenrechte entlang der Lieferkette einzuhalten und Ausbeutung konsequent zu verhindern? Matthäus Wassermann hofft es. Und ist selbst gespannt, was das Projekt bewirken wird.
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Was er tut, tut er im Übrigen nicht deshalb, weil er mit dem Thema „Ethik“ voll im Trend liegt. Für Wassermann persönlich schließt sich ein Kreis, ist ihm doch das Wirtschaftsleben alles andere als fremd. Der Seelsorger, der auf einem kleinen Bauernhof im Unterallgäu aufwuchs, ist nicht nur Theologe, sondern auch Techniker. Über verschlungene Umwege kam er dazu, sich intensiv mit Glaubensfragen zu beschäftigen. Und Theologie zu studieren.
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