Warum Menschen gleich sein wollen, Ungleichheit aber… – Gero Jenner

Das Stre­ben nach Gleich­heit bis hin zur forcier­ten Unifor­mie­rung ist so alt wie die Mensch­heit, und das aus einem einleuch­ten­den Grund: Ungleich­heit und deren Billi­gung führt im Extrem zur Deklas­sie­rung von Menschen: Man lehnt die Unglei­chen als minder­wer­tig, über­flüs­sig oder gar ausrot­tens­wert ab. Nur weil wir andere Menschen, seien es die der eige­nen Nation, seien es die frem­der Völker, als grund­sätz­lich gleich betrach­ten, sind wir zu einem fried­li­chen Mitein­an­der bereit. Tiere, selbst nah verwand­te, betrach­ten wir nicht so – die Auswir­kun­gen sind bekannt.
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Das Stre­ben nach Gleich­heit und Verein­heit­li­chung kommt über­all da zur Geltung, wo Frie­den zwischen Natio­nen und Gesell­schaf­ten dauer­haft herge­stellt werden soll. Die Euro­päi­sche Union verdankt ihm ihre Entste­hung, ebenso die „Verei­nig­ten“ Staa­ten und über­haupt alle Zusam­men­schlüs­se klei­ner mensch­li­cher Gemein­schaf­ten zu großen. Nicht anders gehen Reli­gio­nen vor, wenn sie sich als univer­sa­lis­tisch betrach­ten: Sie bieten einen gemein­sa­men Glau­ben an, um Menschen durch das Band ideo­lo­gi­scher Gleich­heit anein­an­der­zu­ket­ten und so gegen­sei­ti­ges Verständ­nis und letzt­lich Frie­den zwischen ihnen zu stiften.
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Welt­staat und ewiger Friede
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Aus der histo­ri­schen Vogel­per­spek­ti­ve betrach­tet, begann mensch­li­che Geschich­te bei den kleins­ten Einhei­ten aus noma­di­schen Sippen, entwi­ckel­te sich zu Stäm­men und Völkern, weite­te sich zu Reichen und Impe­ri­en aus, bis in unse­rer Zeit zwei, drei Super­mäch­te entstan­den, deren abschlie­ßen­der Zusam­men­schluss unter einer globa­len Welt­re­gie­rung den logi­schen Abschluss dieser Entwick­lung bedeu­ten würde – aller­dings nur, wenn diese Mächte sich nicht zuvor in einem apoka­lyp­ti­schen Feuer­werk gegen­sei­tig vernich­ten. Da der Staat seiner Defi­ni­ti­on nach eine Insti­tu­ti­on ist, die durch Gleich­heit der Geset­ze inne­ren Frie­den stif­tet – er ist nach Max Webers Defi­ni­ti­on der einzi­ge Quell legi­ti­mer Gewalt – kann allein ein künf­ti­ger Welt­staat ewigen Frie­den stif­ten – so wie von Imma­nu­el Kant und Albert Einstein voraus­ge­se­hen und auch gefordert.
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Separatismus
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Eine zu einfa­che und gera­de­zu irre­füh­ren­de Sicht auf mensch­li­che Geschich­te wäre es aller­dings, wenn man sie nur als Bestre­ben in Rich­tung auf Verein­heit­li­chung deuten würde. Denn zur glei­chen Zeit lassen sich über­all auf der Welt gegen­läu­fi­ge Tenden­zen bemer­ken. Im Herzen Euro­pas wollen sich belgi­sche Flamen von ihren wallo­ni­schen Lands­leu­ten tren­nen, katho­li­sche Iren würden ihre protes­tan­ti­schen Mitbür­ger am liebs­ten nach England verban­nen, kata­la­ni­sche Spani­er erstre­ben die Unab­hän­gig­keit von Madrid, Edin­burgh will sich von London lösen. Ebenso brin­gen zentri­fu­ga­le Kräfte das Gebälk zwischen den Staa­ten Euro­pas zum Knis­tern, also zwischen eben densel­ben Staa­ten, die noch vor weni­gen Jahren glück­lich waren, Mitglie­der eines Verein­ten Euro­pas zu sein. England ist aus der Union bereits ausge­schie­den. Sollte Brüs­sel die Visegrád-Staa­ten zur Aufnah­me uner­wünsch­ter Flücht­lin­ge und Zuwan­de­rer zwin­gen, so ist jetzt schon abzu­se­hen, dass einer oder mehre­re unter ihnen dem Beispiel Englands folgen werden.
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Abwä­gung von Nutzen und Schaden
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Wie kommt es zu diesem selt­sa­men Konflikt zwischen Einheits­be­stre­bun­gen, die in histo­ri­scher Sicht die unver­kenn­ba­re Haupt­strö­mung bilden, und den vielen hart­nä­cki­gen Versu­chen, sich dem Souve­rä­ni­täts­ver­zicht und der Unter­ord­nung, die jede Einheit zwangs­läu­fig mit sich bringt, immer erneut zu entziehen?
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Vorder­grün­dig gilt auch hier die mensch­lich-allzu­mensch­li­che Abwä­gung zwischen Nutzen und Scha­den. Flamen, Kata­la­nen und Schot­ten betrach­ten sich als die Zahl­meis­ter ihrer jewei­li­gen Staa­ten. Bei poli­ti­scher Unab­hän­gig­keit rech­nen sie sich größe­ren Wohl­stand und ein höhe­res Maß an Frei­heit aus. Das Verei­nig­te König­reich wollte sich von Brüs­sel nicht länger die ethni­sche Zusam­men­set­zung der eige­nen Bevöl­ke­rung diktie­ren lassen – auch nicht um den Preis ökono­mi­scher Einbu­ßen. Dieser Gesichts­punkt steht für die soge­nann­ten Visegrád-Staa­ten gleich­falls im Vorder­grund. Denn der eigent­li­che und ursprüng­li­che Nutzen, der seiner­zeit die Vision eines „Verein­ten“ Europa über­haupt erst herauf­be­schwor, geriet ja längst in Verges­sen­heit. Ich spre­che von der Abschaf­fung des Krie­ges unter den Mitglied­staa­ten. Die junge Gene­ra­ti­on kennt nichts ande­res als den Frie­den inner­halb der Gren­zen Euro­pas; er erscheint ihnen daher als selbstverständlich.
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Was dage­gen mehr und mehr in das Blick­feld vieler Euro­pä­er gerät, ist das Versa­gen der Union: ihre Verspre­chen auf immer größe­ren und weiter­wach­sen­den Wohl­stand erschei­nen unglaub­wür­dig, seit­dem Arbeits­lo­sig­keit und Verschul­dung bis nahe am Staats­bank­rott den ganzen euro­päi­schen Süden zwischen Grie­chen­land und Portu­gal heim­su­chen und mit poli­ti­scher Insta­bi­li­tät bedro­hen. Es ist keines­wegs über­ra­schend, dass die Abwä­gung von Nutzen und Scha­den in einer derar­ti­gen Situa­ti­on die zentri­fu­ga­len Kräfte stärkt.
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Zwei Seiten dersel­ben Medaille
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Dennoch bezeich­ne ich dieses Abwä­gen von Nutzen und Scha­den als vorder­grün­dig, weil es einen weite­ren und ungleich tiefer liegen­den Grund dafür gibt, dass neben frie­den­stif­ten­der Einheit und Verein­heit­li­chung auch immer das gegen­läu­fi­ge Bestre­ben nach Diffe­ren­zie­rung besteht. Gerade dann, wenn Einheit erfolg­reich errun­gen wurde, zum Beispiel in der insti­tu­tio­nell abge­si­cher­ten Form eines Staa­tes oder einer Union, welche die Gefahr eines inne­ren Krie­ges mit Erfolg über­win­det, stre­ben die ihn konsti­tu­ie­ren­den Indi­vi­du­en nach jenem Maxi­mum an gegen­sei­ti­ger Ungleich­heit, das sich mit dem Frie­den verträgt. Denn nur die ihnen gewähr­te Ungleich­heit ermög­licht jedem einzel­nen von ihnen, jene Talen­te auszu­le­ben und durch Bildung noch auszu­wei­ten, mit denen sie im gebän­dig­ten (fried­li­chen) Wett­be­werb den größt­mög­li­chen Beitrag zum Wohl des Ganzen leis­ten. Und selbst wenn das Wohl des Ganzen dabei nicht im Vorder­grund steht, sondern eher das jeweils eigene, ist dieses Bestre­ben genau­so ausge­prägt: Es äußert sich in Gestalt eines von allen erstreb­ten Indi­vi­dua­lis­mus. Jeder versucht sich zumin­dest durch Äußer­lich­kei­ten von seinen Mitmen­schen zu unter­schie­den – gera­de­zu als Belei­di­gung wird es gese­hen, wenn man in den Augen ande­rer eine bloße Kopie ist: nichts als ein gesichts­lo­ser Einheits- und Massenmensch.
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Es ist also rich­tig, das Gleich­heit und Ungleich­heit zwei Seiten ein und dersel­ben Medail­le sind – man könnte auch sagen, dass sie sich gegen­sei­tig bedin­gen, sobald Menschen zu Bürgern eines befrie­de­ten Staa­tes werden. Denn die insti­tu­tio­nel­le Verein­heit­li­chung, wie sie durch eine gemein­sa­me Verfas­sung herge­stellt wird, bildet die uner­läss­li­che Grund­la­ge für die Entfal­tung mensch­li­cher Viel­falt und Differenzierung. … 

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