Unterwegs in die Zukunft: Selbstversorgung und … – Rezension von Markus Henning
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Wir müssen neue Pfade durchs Dickicht der Gegenwart schlagen und die Aussicht frei machen auf die Quellen emanzipatorischen Neubeginns. Bei denjenigen, die das unternehmen, steht ganz vorne der Schweizer Autor P. M. (d. i. Hans Widmer; geb. 1947). Seine Bücher stiften an zum Ausstieg aus Kapitalismus, Wachstumszwang, Staat und Patriarchat – und zwar durch den Aufbau von Selbstversorgungsstrukturen in stadt-land-vernetzten Nachbarschaftshaushalten.
Dieses Leitmotiv entfächert P. M. seit über vier Jahrzehnten literarisch zu immer neuen Panoramen anarchistisch föderierter und in ihrem Innern vielfach bunt gemischter Kleinzivilisationen. Deren Pluralität siedelt – trotz aller Imagination – im Lebensweltlichen, stößt zu den Bedingungen menschlichen Miteinanders vor und gewinnt dadurch eine utopische Kraft, die unseren eigenen Weltbezug weitet.
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Auch das mikrabitische Reisetagebuch, das P. M. jetzt unter dem Titel Von Shesti nach Kifnif veröffentlicht hat, durchzieht ein pulsierendes Geflecht visionärer Stimmen, Szenen und Bilder. Mittendrin das Alter-Ego des Autors: Jean-Paul Tavernier, ein Zeitgenosse unserer Tage und ich-erzählender Reiseschriftsteller, der sich von Fall zu Fall auch als „Strukturberater“ (S. 213) oder, etwas bescheidener, als „kleiner sozialistischer Realist“ (S. 263) vorstellt.
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Ihm folgen wir auf einem ethnologischen Abenteuertrip über die Insel
Isckar. Flächenmäßig kaum größer als Bayern liegt dieses Eiland mitten im Atlantischen Ozean nahe Afrika. Um die vorletzte Jahrhundertwende war es unter dem kolonialistischen Namen Amberland ein zeitweise beliebtes Ziel internationaler Globetrotter. Seitdem fiel es der Vergessenheit anheim.
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Auf Isckar leben etwa drei Millionen Menschen, meist hängengebliebene Reisende und ihre Nachkommen. Im Allgemeinen möchten sie, dass das mit der Unentdecktheit so bleibt. Sorgfältig pflegen sie ein schlechtes Image und präsentieren der Weltöffentlichkeit mit Stolz ihre niederschmetternden Wirtschaftsdaten. Arbeitslosigkeit: 70 %; Bruttosozialprodukt: minus 4,6 %; Keine einheitliche, geschweige denn konvertible Währung; Renditeträchtige Geschäftsfelder: Fehlanzeige!
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Jean-Paul Tavernier besucht Isckar nicht zum ersten Mal. Er weiß, dass hier Wohlfahrt, gutes Leben und Gastfreundschaft unterhalb des Radars offizieller Statistiken ihre Blüten entfalten. Was wir mit dem Kapitalismus als „Wirtschaft“ verinnerlicht haben – nämlich die Zirkulation von Waren und Geld zwischen anonymen Marktsubjekten –, spielt im Alltag eine so beschränkte Rolle, dass es dafür im Isckarischen noch nicht mal einen Begriff gibt. Bei Bedarf hilft man sich mit dem Fremdwort „ikonòmya“. Und doch beschleicht unseren Helden immer wieder das Gefühl, dass die Insulaner und Insulanerinnen über ihre Verhältnisse leben. Sie machen 32 Wochen im Jahr Urlaub und vertrauen sich auch sonst dem Rhythmus exzellenter Mahlzeiten, langsamer Verdauungsspaziergänge und ausgiebigen Schlafs an. Der Unterschied zwischen Arbeitszeit und Freizeit ist ihnen fremd. „Aber entweder sind ihre Verhältnisse elastischer, als ich es mir vorstellen kann, oder sie verfügen über geheime Ressourcen“ (S. 79 f.). Fragend taucht er ein in Isckars dezentralisierte burlik-Kultur.
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Diese ist Medium des Zusammenlebens, strukturiert den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur und organisiert die öffentliche Daseinsvorsorge ohne Staat und Kapital. Unter einem burlik (in lokalen Dialekten auch: balat, burgu, bolo etc.) versteht man einen urbanen Großhaushalt mit assoziiertem Landwirtschaftsareal von etwa 80 Hektar: „Aller Boden ist verteilt, gut gepflegt und vernünftig genutzt“ (S. 28). Insgesamt gibt es auf Isckar ca. 8.000 dieser zweigliedrigen Prosumentenzellen (inklusive gemeinsamer Küchen, Restaurants, Wäschereien, Produktionsstätten, Bibliotheken und Kultureinrichtungen), in denen jeweils 200 bis 500 Personen nach frei vereinbarten Regeln an ihrer Subsistenz wirken. „Es gibt jedoch einige inselweite Abkommen, die von fast allen eingehalten werden: 10 % des Wohnraums und der Lebensmittel sind für Gäste reserviert; Gäste sollen nach ein bis zwei Tagen im Haushalt mithelfen […]“ (S. 349).
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Über Tauschabkommen sind horizontale Netzwerklinien gewachsen. Auf ihnen finden Güter, Dienste und Ideen ihren geldlosen Weg zwischen einzelnen burliks oder ganzen burlik-Bündeln. Entsprechende Assoziationen schultern auch übergreifende Gemeinschaftsunternehmungen: Etwa im Bereich der kostenlos zugänglichen Infrastruktur (Krankenhäuser, Eisenbahn, Reedereien etc.) oder im möglichst schrumpfend gehaltenen Industriesektor (selbst Hightech-Produkte lassen sich mittlerweile im Kleinen selbst herstellen).
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Da so gut wie alles im System quartierweiser Selbstversorgung verfügbar ist – alle Bewohnerinnen und Bewohner haben eine landwirtschaftliche und technische Grundausbildung –, gelten die monetär betriebenen Märkte als Kuriositäten. Auf ihnen wird eher Abseitiges gehandelt, wobei lokale oder regionale Währungen zum Einsatz kommen, von denen es auf der Insel mehrere Dutzend gibt, zinsfrei und mit einer entsprechenden Vielzahl an Wechselkursen. Für die wenigen Auslandsgeschäfte greift man direkt auf die globale Leitwährung zurück. „Durch die Übernahme des Dollars spart sich Isckar den ganzen Aufwand des Betriebs einer Nationalbank, einer Devisenbewirtschaftung, des Banknotendrucks usw. Solange es den Dollar gibt und sich die Welt nicht verburlikt hat, ist es nur realistisch, sich damit abzufinden“ (S. 351).
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Woraus sich der isckarische Realismus aber vor allem speist, ist weibliches Empowerment. Es reicht zurück bis zu den legendären Streiks von 1864–66. Das Proletariat war im Ausstand und brachte keinen Lohn nachhause. Um die Familien durchzubringen, schritten die Hausfrauen zu direkter Aktion und gründeten Lebensmittelhilfsvereine zwischen Bergarbeitersiedlungen und Bauerndörfern. Erfolg und Ausstrahlung dieser Ur-burliks waren derart groß, dass auch nach dem Streik kaum jemand mehr in die Fabriken zurückkehrte.
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Noch heute hallt der Urknall nach. Seine Wellen haben sich tief in Mentalität und Lebensart eingegraben. Die Insulanerinnen und Insulaner sind Menschen wie du und ich. Jean-Paul Tavernier durchreist kein Wunderland. Und doch spürt er in jeder neuen Community, bei jeder neuen Begegnung etwas ihm Fremdes und (noch) Unerreichbares: Ein Schweben zwischen Spiel und Ernst, eine entspannte Sensibilität gegenüber Seelenlagen und Naturphänomenen, ein Innehalten und Geschehen-Lassen. Nach zwei Tagen gemeinsamer Wüstendurchquerung wird Tavernier von einem Weggefährten angesprochen: „Der Unterschied wird mir immer bewusster. Wir haben hundert Jahre Neo-Matriarchat hinter uns. Unsere Familien sind ganz anders als eure. Es stecken weniger gestaute Energien hinter uns. Ihr habt Väter, Mütter, ein explosives Kleinfamilienkraftwerk in eurer Seele. Ich habe nur eine Vielzahl von Schwestern, Brüdern, Onkeln, Tanten, Mitbewohnerinnen, an die ich mich erinnere. Es gab gemeine Tanten und gemeine Onkel, aber immer auch wieder andere, wo man Schutz fand. Ich war niemandem je wirklich ausgeliefert. Du hingegen bist gehärtet, von großen Enttäuschungen geformt – ein Mann“ (S. 218).
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Verantwortung der burliks, Ausgleich und Wiedergutmachung sind die Hauptprinzipien der Rechtsprechung. Ausgeübt wird sie von örtlichen Laienrichterinnen. Bei Bedarf können Kläger und Angeklagte sich diese selbst aussuchen. Adoptionen können auf Isckar nur von Frauen vorgenommen werden. Selbst die „Machos von Kifnif“ verzichten auf ihr passives und aktives Wahlrecht, damit die Versammlungen von Räten, Assoziationen, Clubs und Parteien in Frauenhand bleiben.
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Die subsistenzbedingte Abwesenheit wirtschaftlicher Wachstumszwänge lässt in allen Lebensbereichen Muße und Energie frei. Selbstorganisation und freie Vereinigungen unterschiedlichster Art prägen eine Vielfalt und Ungleichzeitigkeit, die den Reisenden immer wieder vor Herausforderungen stellt.
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Wir lernen die mikrabitische Kirche kennen. Sie verfügt über keine Institution, ist bar aller Glaubenssätze und hat keine Antworten. Wenn, dann trifft sich das lustige Völkchen der Mikrabitinnen und Mikrabiten, um Fragen zu stellen. Wir besuchen eine urhebräisch-matriarchale Siedlung. In ihr wird nach jedem halben Jahrhundert der „Yobel“ geblasen – alles Eigentum wird zusammengelegt und gleichmäßig neu verteilt. Wir stoßen auf sonderbare Heilige, Frutarier und Käsekuchen-Künstler, Holzburg-Gemeinschaften, Neo-Beat-Cliquen und poetische Minenfelder. Wir durchleben kriminalökologisches Kidnapping ebenso wie urbane Anfälle von Marktverdruss und Geldallergie. Wir fahren in technisch hochgerüsteten Wasserstoffbussen, schaukeln seekrank auf Dromedaren und erkennen, dass kooperatives Leben in der kleinsten Ritze möglich ist.
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All das – und noch viel mehr – eröffnet uns P. M. in einer Mischung aus Didaktik und Ironie. Sein Buch Von Shesti nach Kifnif atmet schöpferische Kraft. Es zeigt, was werden kann, hält die Sehnsucht wach und fordert auf, die Zukunft zurückzuerobern.
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Es sollte auch im freiwirtschaftlichen Diskurs Beachtung finden. Silvio Gesell (1862–1930), deutsch-argentinischer Begründer der Freiwirtschaftslehre, bettete sein Konzept einer antikapitalistischen Geld- und Bodenreform ebenfalls in eine frauenrechtlich grundierte Gesellschaftsvision ein. 1927 veröffentlichte er das Buch Der abgebaute Staat. Leben und Treiben in einem gesetz- und sittenlosen hochstrebenden Kulturvolk. Ein Vergleich dieser narrativen Vorleistung mit dem Werk von P. M. ist lohnend. Es gibt wesentliche Anknüpfungspunkte, um den emanzipatorischen Gehalt beider Ansätze zu schärfen. Das ist wichtiger denn je, gerade in autoritär bedrohten Zeiten wie den unseren.
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