Leben unter Null – Rede von Benoît Cœuré
Über negative Zinsen lernen
Rede von Benoît Cœuré
Übersetzung: Andreas Bangemann
Die Rede im Original (in Englisch) ist auf der Webseite der EZB zu finden: http://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2014/html/sp140909.en.html
Benoît Cœuré ist Mitglied des Direktoriums der EZB. Er hielt diese Rede auf dem jährlichen Abendessen der EZB-Geldmarktkontaktgruppe in Frankfurt am Main am 9. September 2014.
Am 5. Juni 2014 senkte die EZB den Hauptrefinanzierungssatz (Leitzins) auf 0,15 %, den Spitzenrefinanzierungssatz auf 0,40 %, und – vielleicht am bemerkenswertesten – die Einlagefazilität auf minus 0,10 %. Am 4. September 2014 wurden diese Sätze auf 0,05 %, 0,30 % und ‑0,20 % gekürzt und es wurde erklärt, dass die untere Grenze nun erreicht sei. Ebenfalls im Juni beschloss die EZB, im Gegensatz zu früher, Einlagen-Überschüsse, welche die Mindestreserve-Anforderungen an der Einlagenfazilität übersteigen negativ zu vergüten. Mit diesen Maßnahmen betraten wir praktisch Neuland.
Als Gregory Mankiw 2009 in der New York Times feststellte, dass „es an
der Zeit sein könnte […] ins Negative zu gehen“, belebte er eine Idee, die auf den ersten Blick seltsam vorkommt. Wenn Zinssenkungen die Wirtschaft stimulieren und die Leitzinsen bereits sehr niedrig oder sogar null sind, warum dann nicht die Zinsen weiter senken und zu negativen Raten kommen? Die Idee der negativen Zinsen, was bedeutet, man verleiht 100 und bekommt 95 zurück, mag absurd scheinen, aber denken Sie daran: Die frühen Mathematiker fanden die Idee negativer Zahlen ebenfalls absurd.
In der Tat, die Idee der negativen Zinsen oder „Besteuertes Geld“, geht zurück auf das späte neunzehnte Jahrhundert, auf Silvio Gesell, der deutsche Begründer der „Freiwirtschaft“. Die historische wissenschaftliche Meinung über Gesell ist geteilt. Irving Fisher unterstützte ihn und John Maynard Keynes nannte ihn „einen seltsamen, zu Unrecht vernachlässigten Propheten“, andere einen „typischen monetären Sonderling“.
Also, wo stehen wir in der Eurozone? Ich möchte heute diese Frage beantworten, indem ich mich folgenden Punkten widme:
Was bedeutet es, einen unserer Leitzinsen, die Einlagefazilität, unter Null zu haben?
Warum gingen wir dabei ins Negative?
Was sind die grundsätzlichen Kosten und Nutzen eines solchen Schrittes?
Und wie zeichnet sich, mit dem Vorteil eines Rückblicks seit Juni, die erste Bilanz ab?
Zunächst ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Einlagenfazilität eine bestimmte, enge Bedeutung hat: Unter einem negativen Einlagenzins verlieren Banken, die auf ihrem Konto bei der EZB mehr Geld haben als das, was sie brauchen, um ihren Mindestreserve-Erfordernissen nachzukommen, etwas Geld. Nehmen wir zum Beispiel an, dass eine Bank Überschussreserven in Höhe von 100 Millionen Euro kontinuierlich über ein Jahr bei der EZB hat, dann bekommt sie bei einem Zinssatz von ‑0,20 % am Jahresende 99,8 Millionen zurück, so dass die Kosten für die Einlage bei der EZB für ein ganzes Jahr 200.000 € sind.
Warum akzeptieren Banken solche Kosten für die Anlage überschüssiger Reserven bei der Zentralbank? Die Antwort ist, dass die Alternativen zur Anlage der Überschussreserven ebenfalls teuer sind. Tatsächlich bestimmen die Kosten für die alternative Nutzung der Zentralbankeinlagen, inwieweit der Zinssatz für Überschussreserven in der Praxis negativ werden kann.
Banken können immer wählen, ob sie die physische Währung anstelle elektronischer Guthaben bei der EZB halten wollen. Da die physische Währung eine Nominalrendite von Null hat, gibt es etwas für die Rate an Überschussreserven, was ich „Wirtschaftsuntergrenze“ nennen würde. Es ist nur schwer zu erkennen, aber die Nominalrendite ist nicht Null, da die effektive Rendite der physischen Währung tatsächlich negativ ist. Man braucht nicht einmal eine Demurrage-Rate oder regelmäßiges Stempeln auf Banknoten zu verhängen, wie Irving Fischer zurückgehend auf Gesells Idee vorgeschlagen hat. Es entstehen Kosten für die Lagerung, den Besitz, und – noch wichtiger – für die Nutzung der physischen Währung. Dies beinhaltet die Kosten für die Anmietung, Wartung und Sicherung der Lagereinrichtungen, wie Tresorräume, sowie die Kosten für den Transport der Währung in sicherer und zeitgemäßer Weise. Eine kürzlich durchgeführte EZB-Studie schätzt die privaten Kosten von Barzahlungen auf durchschnittlich 1,1 % des BIP in den teilnehmenden Ländern. Die sozialen Grenzkosten (jene, die in der gesamten Wirtschaft anfallen [Anm. d. Red.]) wurden auf 2,3 Cent pro Euro der Transaktion geschätzt. Dies ist pro Euro der Transaktion wesentlich höher als die sozialen Grenzkosten einer Überweisung oder anderer bargeldlosen Zahlungen. Da der ungesicherte Tagesgeldmarkt allein Hunderte von Banken, mit einem Gesamttransaktionsvolumen von ca.
40–50 Mrd. € täglich beinhaltet, würde das Ausmaß dieser Transaktionen mit physischem Geld eine gewaltige und kostspielige Aufgabe sein, sowohl privat als auch gesellschaftlich.
Ich würde nicht so weit gehen wie Kenneth Rogoff und den Schluss ziehen, dass bei ausschließlichem Vorhandensein von elektronischem Geld (Abschaffung des Bargelds [Anm. d. Red.]) durch Herunterdrücken der wirtschaftlichen Untergrenze Spielraum für die Notenbanken geschaffen würde, um in ein langanhaltendes Umfeld niedriger Inflation zu gelangen. Die EZB hat sich dem Ziel verpflichtet, die Inflation im Euroraum wieder auf ein Niveau unter, aber nahe zwei Prozent zu bringen, ganz im Einklang mit ihrem Mandat.
Aber was ist dann der Grund für eine negative Rate der Einlagenfazilität? Warum den Überschussreserven der Banken Kosten auferlegen?
Man sollte die negative Rate im Zusammenhang mit dem Ziel der EZB sehen, die geldpolitische Lockerung weiter zu betreiben, unter anderem durch eine Senkung der Leitzinsen ohne die Marktintermediation zu beeinträchtigen. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum es wünschenswert ist, eine gewisse Distanz zwischen dem Hauptrefinanzierungssatz und den Einlagenzinsen zu halten. Die relative Differenz zwischen den Kosten für die Kreditaufnahme bei der EZB und dem Nutzen der Hinterlegung bei der EZB legt den Anreiz, im Interbankenmarkt zu leihen. Einen aktiven Interbankenmarkt zu haben ist wichtig, um Preissignale zur Übermittlung der Leitzinsen in die Wirtschaft zu senden. Es ist auch wichtig, um die übermäßige Abhängigkeit der Banken von Zentralbankgeld zu reduzieren, was ein Schlüsselfaktor der Widerstandsfähigkeit im Nachkrisen-Umfeld gewesen ist.
In den Worten von Michael Woodford, „die Nachfrage nach ([Anm. d. Red.:] Interbanken-) [Tagesgeldern] ist eine Funktion der Positionierung des Tagesgeldsatzes in Bezug auf den Kredit- und des Einlagenzinssatz, aber unabhängig von der absoluten Höhe einer dieser Zinssätze.“
Um die Rolle des relativen Unterschieds zu sehen, stellen Sie sich folgendes Gedankenexperiment vor. Aus Gründen der Argumentation, lassen Sie mich vom Kreditrisiko des Tagesgeldmarkts absehen und davon ausgehen, dass es genügend notenbankfähige Sicherheiten gibt, um von der EZB zu leihen. Folglich gäbe es keinen wesentlichen Unterschied zwischen sehr kurzfristig besicherten und unbesicherten Anleihen und Darlehen. Banken mit Überschussreserven würden im Interbankenmarkt nur mit einer Zinsatz verleihen, der über dem Einlagensatz der EZB liegt, Banken mit einem Mangel an Reserven nur mit einem Zinssatz, der unter dem Hauptrefinanzierungssatz liegt. Nehmen wir nun an, dass der Hauptrefinanzierungssatz gleich der Einlagensatz ist. Damit gibt es keine Rate, die den Handel möglich macht. Um Marktaktivitäten zu unterstützen, ist es daher wichtig, einen Abstand zwischen dem Hauptrefinanzierungs- und dem Einlagensatz zu halten.
Ein weiterer Vorteil der Senkung des Einlagensatzes zusammen mit dem Hauptrefinanzierungssatz ist, dass in der gegenwärtigen Situation mit Überschussliquidität, kurzfristige Zinssätze wie der „EONIA“ stärker durch den Einlagensatz beeinflusst werden als durch den Hauptrefinanzierungssatz. Das Bankensystem als Ganzes hat derzeit eine Überschussliquidität von rund 130 Mrd. €. Wenn die Überschussliquidität steigt, fallen die Raten, da weniger im Interbankenmarkt ausgeliehen werden muss (die Nachfragekurve verschiebt sich nach unten). Um sicherzustellen, dass die lockere Geldpolitik auf dem Interbankenmarkt bei Festzinsvollzuteilung und Überschussliquidität ankommt, ist es daher nicht genug, nur den Hauptrefinanzierungssatz zu senken. In der Tat kann der Einlagensatz in einem Umfeld überschüssiger Liquidität der wichtigste Leitzins der Zentralbank sein.
Die Entscheidung über die Zinssenkung, die von einer Reihe anderer Maßnahmen zur Stimulierung der Kreditvergabe an die Wirtschaft begleitet wird, wie „gezielte“ Langzeitvorgänge (um die Banken dazu zu bewegen, mehr an die Realwirtschaft zu verleihen) und eine Ankündigung der Käufe kapitalgesicherter Wertpapieren und gedeckter Anleihen auf der Basis von Ansprüchen auf die Realwirtschaft des Euro-Währungsgebiets, ist auch in vollem Einklang mit den zukunftsgerichteten Entscheidungslinien der EZB. Die zukunftsgerichteten Entscheidungslinien (Forward guidance) setzen voraus, dass die Zinsen, abhängig von einer Beurteilung der Konjunkturaussichten, für einen längeren Zeitraum auf dem gegenwärtigen oder einem niedrigeren Niveau bleiben.
Im Anschluss an die Entscheidung vom Juni wurden die niedrigeren Leitzinsen auch angemessen auf den Geldmarkt übertragen und – im Einklang mit der Leitlinie (forward guidance) – ging die Marktunsicherheit über die zu erwartende Entwicklung der Leitzinsen zurück. Die Kurve des
EONIA flachte vorne ab und wurde nach unten verschoben. Darüber hinaus ist die Volatilität der EONIA-Sätze sowie die options-implizierte Volatilität der kurzfristigen Zinssätze gesunken. Die niedrigeren Leitzinsen wurden auch auf längere Laufzeiten und auf anderen Marktsegmente als den ungesicherten Geldmarkt übertragen. EURIBOR und von EURIBOR-Termingeschäften beeinflusste Zinsraten fielen nach der Entscheidung vom Juni und noch einmal nach der Entscheidung im September. Ungesicherte Geldmarktzinsen sind jetzt für eine Laufzeit von bis zu zwei Wochen negativ. Außerdem wurde sowohl die General Collateral (GC) Pooling Repo-Kurve, als auch die Renditen der Euroraum-Schatzbriefe und ‑Schuldverschreibungen weiter angepasst.
Der EONIA ist seit dem 28. August regelmäßig im negativen Bereich, in Verbindung mit stabilen Handels-Umsätzen (das durchschnittliche tägliche EONIA Handels-Volumen von Januar bis Juni 2014 lag bei 26,1 Mrd. € und bei 28,9 Mrd. € seit Juni) und der homogene Übertragung zu den eng substituierbaren Marktsegmenten, wie der GC Pooling Repo, sind Hinweise darauf, dass ein großer Teil der ungesicherten Geldmarktgeschäfte bei negativen Preisen stattfindet, ohne das Funktionieren des Marktes zu behindern. Dies spiegelt eine effektive und gut koordinierte Vorbereitung der Marktteilnehmer wieder, seit die EZB erstmals die Möglichkeit erwähnte, den Leitzins unter Null zu senken.
Die Tatsache, dass das Geldmarkthandelsvolumen nicht fiel (derzeit steigt es sogar), ist angesichts der Befürchtungen, die einige Beobachter geäußert hatten bemerkenswert, wobei sie auf die japanischen Erfahrungen der 1990er Jahre hinsichtlich der möglichen Auswirkungen auf das Funktionieren des Marktes bei einem negativen Einlagenzins und sehr niedrigen Raten im Allgemeinen verwiesen.
Wird die Übertragung niedrigerer, kurzfristiger Zinsen hin zu niedrigeren Kreditkosten für die Realwirtschaft ebenso reibungslos verlaufen? Während sich die Kreditzinsen der Banken in der Vergangenheit im Einklang mit niedrigen Leitzinsen nach unten bewegten, gibt es eine Grenze, wie billig die Kreditvergabe der Banken werden kann. Den Kalkulationsaufschlag, den die Banken zu ihren Kosten der Beschaffung von Mitteln von der Zentralbank hinzufügen gleicht das Kreditrisiko, Laufzeitprämien und die Kosten für Herkunft aus, sowie die Prüfung und Überwachung der Kredite. Die Notwendigkeit für eine solche Entschädigung entfällt nicht unbedingt, wenn die Leitzinsen sinken. Eher senkt eine Zentralbank die Zinsraten, wenn die Wirtschaft einen Stimulus braucht, also genau dann, wenn es für die Banken schwierig ist, gute Kredit-Gelegenheiten zu finden. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Ausmaß das derzeitige geldpolitische Umfeld zu einer günstigeren Kreditvergabe der Banken führt.
Eine weitere Sorge bei sinkenden Zinsen ist, dass es zur Instabilität des Finanzsektors kommen könnte. Obwohl diese Sorge berechtigt sein kann, ist die Kausalkette in der Praxis schwer nachzuweisen. Führen niedrige Zinsen wirklich zu Instabilität (z. B. wenn ein Überschuss nach Rendite sucht) oder sind die Zinsen niedrig, weil im Finanzsystem eine Instabilität gewesen ist und die Wirtschaft die Notwendigkeit eines Anreizes braucht? Das heißt, die Reduzierung übermäßiger Risikoaversion an den Finanzmärkten ist ein willkommener (Neben-) Effekt der Zentralbankpolitik in der Krise. Die Frage ist, ob die Risikobereitschaft im Finanzsektor nun schon zu weit gegangen ist, zu wachsendem finanziellen Ungleichgewicht, überschäumender Vermögenspreisbewertung und zu lockeren Kreditstandards beiträgt? Unabhängig von der Antwort auf diese Frage, ist es klar, dass bei der momentanen geringen Inflation, die Geldpolitik nicht die richtige Adresse für solche Bedenken des Euroraumes sein kann. Es ist daher die Aufgabe der makroökonomischen Aufsicht mit diesen potenziell finanziellen Ungleichgewichten umzugehen. Der Aufsichts-Aufbau in Europa hat erhebliche Fortschritte gemacht, die dazu beitragen, die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten. Da wir in einen längeren Zeitraum der niedrigen Zinsen eintreten, müssen wir bereit sein, die neuen makroökonomischen Instrumente, mit denen die zuständigen nationalen Behörden und die EZB nun betraut sind, in vollem Umfang zu nutzen.
Ein wichtiger Aspekt der Senkung der Leitzinsen war, dass es auch unsere Zukunftsleitlinien (forward guidance) bestätigt und dazu beiträgt, die Verpflichtung der EZB sicherzustellen und zu gewährleisten, dass die Geldpolitik, den Bedürfnissen der Wirtschaft im Euroraum angemessen bleibt. Dies wird in der EONIA-OIS-Kurve deutlich, die jetzt flach und für eine Laufzeit von bis zu drei Jahren im negativen Bereich liegt, sich ferner in den Markterwartungen von negativen EONIA-Festigungen bis 2017 (Darstellung 1) reflektiert und in einer wachsenden Kluft zwischen der erwarteten Entwicklung der Zinsen in den USA und im Euroraum darstellt.
Ein negativer Einlagensatz kann jedoch auch ungünstige Folgen haben. Zunächst belegt er Banken mit Überschussreserven mit Kosten und könnte daher ihre Rentabilität reduzieren. Beachten Sie jedoch, dass dies bei jeder Minderung der Einlagensätze gilt und nicht nur bei solchen, die im Negativen liegen. Sicherlich könnte die niedrigere Rentabilität der Banken die wirtschaftliche Erholung beeinträchtigen, vor allem in Zeiten, in denen die Banken ihre Verschuldung reduzieren müssen, um strengerer Regulierung und verbesserter Marktkontrolle gerecht zu werden. Aber ob die Rentabilität der Banken wirklich fällt wenn die Leitzinsen sinken, hängt ganz allgemein von der Steigung der Zinsstrukturkurve ab (da die Finanzierungskosten der Banken auch fallen können), von den Anlagestrategien der Banken (da es Raum für sie gibt, ihre Geldanlage zu diversifizieren, sowohl entlang der Kurve als auch im Kredit-Universum) und von den Faktoren der zinsunabhängigen Erträge. Grundsätzlich sind Banken in einer gesunden Wirtschaft mit Haushalten und Unternehmen, die danach streben ihre Projekte zu finanzieren, profitabel, worauf unsere expansive Geldpolitik in erster Linie auch abzielt.
In der Tat, sowohl eine reibungslose Übertragung der niedrigen Leitzinsen auf die Kosten für die Kreditvergabe an die Wirtschaft, als auch die Förderung der Rentabilität der Banken wird letztlich davon abhängen, ob die Wirtschaftspolitik in der Eurozone und auf Länderebene erfolgreich ist bei der Umsetzung, die Volkswirtschaften des Euroraums wieder auf den Weg starken und stabilen Wachstums zu führen, sowohl durch Maßnahmen auf der Angebotsseite und – soweit verfügbar – nachfrageseitige Instrumente. Ein bedachtes, gut kapitalisiertes Bankensystem ist in jedem Fall erforderlich, und die umfassende Bankenprüfung (Comprehensive Assesment) der EZB zusammen mit dem Start des einheitlichen Bankenaufsichtsmechansimus (Single Supervisory Assessment) sind in dieser Hinsicht Schlüsselelemente.
Um die Kosten für die Überschussreserven zu vermeiden, können die Banken auch beschließen, weniger von der EZB zu leihen. Dies würde die Überschussliquidität im Bankensystem verringern und einen Aufwärtsdruck auf die Zinsen im Interbanken- und Anleihenmarkt erzeugen, welcher der Verringerung der Leitzinsen entgegenwirken könnte. Aber das konnten wir bisher nicht wahrnehmen.
Trotz der Diskussion über die nachteiligen Folgen eines negativen Leitzinses, gab es keinen signifikanten Einfluss auf das Funktionieren der Geldmärkte. Ich erwähnte bereits die reibungslose Übertragung der Raten und die stabilen Handelsvolumen in EONIA. Ebenso ist die Höhe der Überschussliquidität oder die Höhe der Einlagen bei der EZB weitgehend unbeeinflusst geblieben.
Allerdings könnte ein möglicher Grund für das stabile Niveau der Geldmarktfunktion die rückläufige, aber immer noch bestehende Fragmentierung der Geldmärkte sein. Während vieles erreicht worden ist, beispielsweise sind TARGET‑2 Ungleichgewichte um fast die Hälfte seit ihrem Höchststand Mitte 2012 gesunken (572 Mrd. € am 3. September, 541 Mrd. € unter ihrem Höchststand im Juli 2012), ist die Zersplitterung des Marktes in der Euro-Zone nach wie vor gegeben.
Wenn Banken mit Überschussreserven hauptsächlich in nicht belasteten Ländern hoch profitabel sind, dann können mögliche nachteilige Auswirkungen auf die Rentabilität der Banken weniger ein Problem aus der Sicht der Finanzstabilität sein. Und falls Banken gute Gründe haben, von der EZB zu leihen, zum Beispiel wenn andere Finanzierungsquellen nicht zur Verfügung stehen, und wenn jene Banken, die Kredite aufnehmen nicht unbedingt dieselben sind, wie die, die Einlagen bei der EZB halten, dann kann die überschüssige Liquidität im Bankensystem nicht fallen.
Was ist mit den Auswirkungen der negativen Raten auf die Zersplitterung des Marktes in der Euro-Zone? Anzeichen von den tatsächlichen Geldmarktgeschäften zeigen, dass die Fragmentierung die reibungslose Übermittlung niedrigerer Preise im Euroraum immer noch deutlich erschwert. Die Banken in nicht belasteten Ländern können nun im ungesicherten Tagesgeldmarkt zu negativen Raten leihen. Zinsen für Kreditnehmer in angespannten Ländern sind überwiegend positiv und die Verteilung der Zinsraten ist breit gefächert und reicht von leicht negativ bis leicht über den Hauptrefinanzierungssatz.
Das heißt, es gibt Hinweise darauf, dass niedrigere Preise die Fragmentierung in gesicherten Märkten reduziert haben. Die Suche nach Rendite im niedrigen Zinsumfeld hat die Nachfrage nach Produkten die höhere Erträge erzielen, aber dennoch sicher sind, wie Repo (Rückkaufvereinbarung, Anm. d. Red.) oder Staatsanleihen auch in den Nicht-Kernländern erhöht. Die höhere Nachfrage hat die Zinsen nach unten und somit in gesicherte Märkte gedrückt.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wie lautet – angesichts der theoretischen Argumente für und gegen das Senken einiger Leitzinsen in den negativen Bereich, und angesichts der bisherigen Praxis – das Urteil? Oder, zurückkommend auf die Meinungen zu Gesell: Sollte er als ein Prophet oder monetärer Sonderling betrachtet werden?
Während das endgültige Urteil sicherlich noch aussteht, scheint es auf der Grundlage der bisher vorgelegten Beweise angebracht zu sein, festzustellen, dass die Senkung der Leitzinsen, mit dem Einlagensatz in den negativen Bereich der Wirtschaft des Euroraums einen geldpolitisch angemessenen Impuls gegeben hat, die nach vorne gerichtete Führung der EZB (forward guidance) bestätigte und zu einem gewissen Rückgang der Marktfragmentierung beitrug, ohne sich nachteilig auf das Funktionieren der Geldmärkte auszuwirken.
Da sich der Geldmarkt im negativen Bereich festsetzt und andere Marktsegmente mit negativen Renditen Erfahrungen sammeln, müssen wir jetzt sicherstellen, dass die breitere Markt-Gemeinschaft vorbereitet ist, mit diesem neuen Umfeld zurechtzukommen.
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