Kapitaldelikte und Heuchelei im 21. Jahrhundert – Reino Kropfgans
Die Studie „Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty macht weltweit Furore mit seiner exzellent empirisch gestützten These, dass in unserem Wirtschaftssystem fast unvermeidlich die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Kann solch ein wissenschaftlich geführter Nachweis etwas an dieser Tatsache ändern?
Für Reino Kropfgans ist die hitzige Diskussion um die Thesen von Piketty nur eine inszenierte Debatte, die den Schein von Demokratie aufrechterhalten und beschwichtigen soll. Er meint: „Die Oligarchen in Ost und West werden weiterhin die Fäden ziehen, ihnen und ihrer Lobby geht es bestens … ökonomische Alternativmodelle werden in Nischenmedien zugelassen – mit Exotenstempel.“
Wie bringt man so was rüber? Die Beschreibung einer Situation, mit der wir, seit es uns gibt, noch nie konfrontiert wurden. Eine evolutionäre Sackgasse, die so neu ist, dass der gewohnheitsmäßige Rückgriff des Neocortex auf das Stammhirn eher alles noch schlimmer macht. Die alten Werkzeuge – Familienclans, Ehrenkodizes, Stammesordnungen, Gesetzbücher, Fürstentümer und Königreiche, Konstitutionen und Staatenbünde – sind stumpf geworden. Die Kontrolle über die digitalen Geister, die wir riefen, droht uns zu entgleiten. Geister, die unsere genetische Mitgift wie Niedertracht, Machtstreben oder Gier ins Monströse steigern.
Möchten Sie’s butterweich durchgebraten à la: wir ziehen ja doch alle an einem Strang? Steckt nicht in jedem von uns ein kleiner Putin? Oder ein bisschen polarisierter: Wer wird wohl das globale Tauziehen für sich entscheiden? Darf die Empörung sich Luft verschaffen angesichts der in Kauf genommenen Verelendung ganzer Kontinente? Darf ein Rezensent wütend sein? Oder sollte er sich mit pastoralen Fragen bescheiden über das Böse in uns allen, das nur auf seine Käuflichkeit wartet?
Wir entscheiden uns hier mal für Wut, Empörung, Fassungslosigkeit und … unendliche Trauer darüber, wie wir unseren wehrlosen Kindern und Enkeln ihre Lebensgrundlagen zerstören. Es sind ja nicht nur die bösen Oligarchen, für die Transparenz und Verantwortung Fremdworte sind, sondern es gibt da ja auch noch ein paar Millionen Aktienbesitzer, die Rendite von ihrer Klinikkette oder ihrem Mietwohnungs-Hedgefonds sehen wollen. Und dann noch die, die sich ein T‑Shirt für fünf Euro kaufen, obwohl sie wissen, wo das herkommt.
Die „Gene des Bösen“ sind real. Uns obliegt die Verantwortung sie zu beherrschen.
Sitzen wir also doch alle in einem Boot? Ja … in einer Galeere.
Also, die Emotion soll und darf sich zeigen – solange die Tatsache im Blickfeld bleibt, dass Schuldzuweisungen und Dämonisierungen vom Thema ablenken und mithin kontraproduktiv sind …
Eigentlich sollte das Thema abgehakt sein: Alle paar Tage kommt ein neues tiefschürfendes Opus eines fachwissenschaftlichen Shooting-Stars darüber, warum wir unseren globalen Karren ökologisch und sozial derartig tief in den Dreck gesetzt haben, dass wir Löcher nur noch mit Löchern stopfen und Skandale nur noch mit Desastern toppen können.
Eigentlich wissen wir, dass mit dem Verlust realistischer, gesellschaftspolitischer Alternativen zum Kapitalismus kein global wirksames Gegengewicht zu Gier, Rücksichtslosigkeit und geballter Marktmacht mehr denkbar ist. Die Motorradgang des Dschungelkapitalismus hat die öden Straßen des globalen Plattenbauviertels fest im Griff. Es wird abkassiert!
Und eigentlich sollte das hier eine eher routinemäßige Vorab-Rezension über einen Megaseller werden, der erst 2015 auf Deutsch erscheint. Das Buch „Capital in the 21st Century“ von Thomas Piketty, Ökonomie-Professor an der Paris School of Economics, hat Nobelpreisträger Paul Krugman zum „wichtigsten Wirtschaftsbuch des Jahres – und vielleicht des Jahrzehnts“ erklärt. Interviews, Talkshows und medienwirksame PR-Auftritte haben Piketty weltweit, vor allem in den USA, zu einem „Rockstar“ (New York Times) in Sachen Ökonomie gemacht – man erhält zurzeit mehr als 6 Mio. Treffer, wenn man bei Google »Piketty« eingibt.
Mediales Getöse
Und jetzt hat es doch auch in mir ein paar Kreise mehr gezogen als zunächst geplant. Um es vorweg zu sagen: Das mediale Getöse, das dieses Buch ausgelöst hat, ist Teil unseres alltäglichen Rituals namens Scheindemokratie, dessen desaströse Konsequenzen Piketty hier nur andeutet, will er doch als empirischer Wissenschaftler nicht in den Ruch des Idealismus oder gar der Rebellion kommen.
Lethargie mag sich des abgeklärten Lesers bemächtigen, schaut er sich die feinen Ziselierungen ökonomischer Vernunft an, mit denen diese neue Sau tätowiert ist, die da weltweit durchs mediale Dorf getrieben wird. – Umsonst.
Piketty schlägt zwar eine Vermögensbesteuerung vor, die bei großen Vermögen drastisch wäre, sein Vorschlag aber bleibt voraussehbar wirkungslos, weil er nur national umgesetzt werden kann – das Kapital wird weiterhin dort hin ziehen, wo die Besteuerung am geringsten ist. Es geht hier also nicht um Kurskorrekturen oder Gerechtigkeit oder soziale Befriedung oder Verantwortung oder logisch nachvollziehbare Argumente oder gar um Empathie.
Des Kaisers neue Kleider
Thomas Steinfeld von der Süddeutschen Zeitung resümiert dann auch folgerichtig: „Denn was ist von so viel Empirie zu halten, wenn die Konsequenz daraus nur ein wenig Empörung ist – und ein Vorschlag, über dessen illusionären Charakter man sich sofort einigen kann?“
Es geht auf ca. 700 Seiten in 16 kurzen, gut lesbaren Kapiteln um die exponentiell ansteigende weltweite Ungleichverteilung. Alle sehen des Kaisers neue Kleider, doch die Fachleute erklären unverdrossen die Stellschrauben, die es dereinst ermöglichen, ein Quäntchen Humanität in diese seelenlosen Rafforgien zu bringen. So scheint es den neofeudalen Oligarchen strategisch angebracht, die demokratische Fassade in Form pluralistischer Als-ob-Diskussionen gelegentlich polieren zu lassen. Weil Gier in Sachzwang-Outfit halt gefälliger aussieht.
Die gepflegte Eloquenz, mit deren Hilfe eigens angeheuerte Verdummbeutelungsspezialisten auch dem höher gebildeten Auditorium die Notwendigkeit von Renditesteigerungen frei von jeder Verantwortung nahe bringen, erscheint da wie eine Art floraler Dekoration. Bis es fast jeder irgendwann geschluckt hat.
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