Jenseits von Knappheit – Editorial
Es bleibt zu bedenken: Die Kartoffeln behalten bei besten äußeren Bedingungen nur für einen kurzen Zeitraum ihre Frische, die den Verzehr zu einem Genuss macht. Gitarren oder Geigen muss man pflegen und bespielen, um sich dauerhaft daran zu erfreuen. Das Gartengerät bedarf regelmäßiger Wartung; seine Dienstzeit ist begrenzt. Der Wandschmuck wird ebenso langweilig, wie etwa die Kleidermode.
Kartoffel‑, Gitarren‑, Rasenmäher- und Stoffvermögen verrotten oder werden fortlaufend aufgebraucht. Der „Zahn der Zeit“ nagt an allem, dessen Substanz stofflich ist. Ein Prozess, der – so betrüblich er im Einzelfall erscheinen mag – gleichwohl sämtlichen materiellen Verbindungen im Universum in die Wiege gelegt ist. Bei diesen endlosen Zerfallsprozessen geht trotz alledem nicht das Geringste verloren, im Gegenteil: Das Universum expandiert ständig und das mit zunehmender Geschwindigkeit.
Der Mensch strebt nach Beständigkeit und wehrt sich gegen Verlust. Albert Einstein attestierte sich selbst „die größte Eselei meines Lebens“ als er versuchte mit der „kosmologischen Konstante“ auf Endlichkeit des Universums zu plädieren. Das Festhalten am Glauben dinglicher Konstanz in Fragen der Ökonomie ist mit Blick auf die Natur der Gipfel von Eselei. Der unendliche Prozess des Werdens und Vergehens wird sich davon nicht aufhalten lassen.
Wir erfinden Sehnsuchtsszenarien, wie den „sicheren Hafen“ für die Schiffe auf dem Meer. Die künstlich gesicherten Hafenanlagen enthalten verunreinigtes Wasser, weil es steht. Das bewegte Meerwasser spendet Leben. Der „sichere Hafen“ ist toxisch. Die darin ankernden Yachten der Reichen dümpeln, ihrer Bestimmung entzogen, sinnbildlich dahin für eine lebensfremde Einstellung des Beharrens. Das moderne wirtschaftliche Denken schuf ein stehendes Gewässer, dessen Giftigkeit uns im Menschsein bedroht. Wir brennen aus (Burnout). Es droht eine Klimakatastrophe und die Zerstörung lebensnotwendiger Umweltbedingungen.
Wir rackern, wie einst Sisyphos. Der Stein, den wir ein ums andere Mal den steilen Berg hinaufrollen heißt „Beständigkeit“. Wir wollen sie erlangen in einem Universum, geprägt von wechselvoller Unbeständigkeit und nie endenden Veränderungsprozessen. Das menschengemachte Wirtschaftssystem setzt dem die Krone auf, in dem es die Knappheit zum Prinzip erklärt. „Der rationale Umgang mit Gütern, die nur beschränkt verfügbar sind“ ist laut Lehrbuch Wirtschaften. Das wissenschaftliche Gebot für die Zunft der Ökonomen ist demzufolge nicht etwa – was zu wünschen wäre – die Untersuchung der Abläufe wirtschaftlicher Tätigkeit. Auch nicht die Inbeziehungssetzung von sinnvollen und zweckmäßigen Zielen für Gemeinschaften. Am Anfang und über allem steht die Knappheit. Wir lassen das gelten und richten unser Handeln darauf aus. Der Drang nach der Herstellung von Knappheiten ist die logische Folge, verspricht er doch per Definition materielle Erfolge bei geringstmöglicher Leistung. Elementare Grundlagen für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sind bestens geeignet, um Knappheitsgewinne zu erzielen: Grund und Boden, Patente, Rechte und nicht zuletzt das, wonach alle streben: Geld.
Geld ist der Schlüssel zur Überwindung der Knappheit und gleichzeitig das Schloss davor.
Wir verknappen, obwohl wir beim Verschwenden die lebhafteren Glücksgefühle empfinden. „Festhalten“ sagt unser Verstand, „Loslassen“ das Gefühl.
Förderlich für einen Ausweg aus dem Dilemma könnte sein, dem Wort „verschwenden“ nachzugehen. Es kommt vom althochdeutschen „verswinden“ und bedeutete genau das. Wie verschwinden giftige Bestände? Wie löst sich Angehäuftes auf und macht Platz für frischen Nachschub? Dadurch, dass wir das Dogma der Knappheit hinter uns lassen. Um nicht falsch verstanden zu werden: das ist das Gegenteil von „Immer mehr“, von dauerndem Wachstum und Konsum. Der heutige „Konsumterror“ mit seinen zerstörerischen Folgen für die Umwelt ist die logische Langfristfolge der Knappheits-Ökonomie. Zu einer anderen Wahrheit gelangen wir, wenn wir andere Wege einschlagen. Eine Balance wie sie die Natur vor Augen führt – Nachhaltigkeit im ureigensten Sinn – können wir erst erlangen, sobald wir Knappheit aus unserem Wirtschaftsmodell verbannen und Vergänglichkeit eingliedern.
Herzlich grüßt Ihr Andreas Bangemann
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