In Gemeinschaft gegeneinander – Editorial

Die Diskus­sio­nen zum Thema Klima­wan­del haben enorm Fahrt aufge­nom­men. Zwei trocke­ne Sommer, Bilder von bren­nen­den Wäldern, schmel­zen­dem „ewigen“ Eis und eine welt­weit aufge­keim­te Jugend­be­we­gung trugen dazu bei. Seit mehre­ren Jahr­zehn­ten weiß man, welche Folgen das „Weiter so“ einer auf stän­di­ges Wachs­tum program­mier­ten Welt­wirt­schaft für das Ökosys­tem Erde haben wird. Ein erschre­cken­des Beispiel dafür, wie eine ratio­na­le Erkennt­nis dauer­haft mit verhält­nis­mä­ßi­ger Untä­tig­keit verbun­den bleibt.
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Warum ist lange nichts gesche­hen? Selbst­er­nann­te Ökokämp­fer, sei es aus wissen­schaft­li­chem oder priva­tem Bereich, feuern aus Scham­ka­no­nen auf ihre Mitmen­schen, um Hand­lungs­wei­sen zu erzwin­gen, die sie für erfor­der­lich erach­ten, um die Umwelt zu retten. Vieles deutet auf ein kämp­fe­ri­sches sozia­les „Klima“ hin, wenn es um die Zukunft des Plane­ten und indi­vi­du­el­les Handeln geht. Ob aus einer solchen Stim­mung heraus ein wünschens­wer­tes und notwen­di­ges Kollek­tiv­ver­hal­ten entsteht, sei dahin­ge­stellt. Fest steht nur: Wir brau­chen eines! Der Sozio­lo­ge Georg Simmel konsta­tier­te, dass inner­halb von Kollek­tiv­hand­lun­gen immer ein statis­ti­scher Rest Einzel­ner bleibe, der in entge­gen­ge­setz­ter Rich­tung handle. Das hänge damit zusam­men, dass wir freie Menschen seien und nicht zu einem bestimm­ten Verhal­ten genö­tigt werden können. Der Einzel­mensch sei frei, mora­lisch oder unmo­ra­lisch zu handeln. Entschei­dend bleibt, wohin das Ganze strebt. Wenn es sich – getra­gen von einer Mehr­heit – in die gewünsch­te Rich­tung entwi­ckelt, ist irrele­vant, was „Ausrei­ßer“ unter­neh­men. Sollte diese These stim­men, verbleibt die Frage unbe­ant­wor­tet, weshalb es nicht längst einen Wech­sel der Entwick­lungs­rich­tung des Gesell­schafts­kol­lek­tivs gab? Was genau sind die Gegen­kräf­te, die noch immer stär­ker zu sein schei­nen, als der gesun­de Menschen­ver­stand jedes Einzel­nen, der seit einer gefühl­ten Ewig­keit die Entwick­lung hin zu einer nach­hal­ti­gen Wirt­schafts- und Lebens­wei­se gutheißt? Eine Erklä­rung wäre, dass gleich­zei­ti­ge Kollek­tiv­hand­lun­gen auf ander­wei­ti­gen Gebie­ten entgegenwirken.
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Inner­halb unse­res Wirt­schafts­sys­tems gibt es, nur zaghaft kritisch hinter­fragt, nach wie vor den Drang zum Wachs­tum. Kein Tag vergeht, an dem dieses kate­go­risch gefor­der­te Ziel nicht klar zum Ausdruck gebracht wird. Im fragi­len System der in gegen­sei­ti­gen Abhän­gig­kei­ten Wirt­schaf­ten­den herrscht Einig­keit, dass das Glück der Menschen von ihrem Erfolg im Wech­sel­spiel aus Geben und Nehmen abhängt, was sich in Zahlen auf ihrem Bank­kon­to nieder­schlägt. Das Stre­ben hinzu einer Stei­ge­rung von Einnah­men und einer Senkung von Ausga­ben ist nicht nur in Unter­neh­men ein Faktor fürs Über­le­ben, sondern auch in jedem Privat­haus­halt. Ein in seiner Gesamt­heit wach­sen­des Wirt­schafts­um­feld scheint beste Voraus­set­zun­gen zu bieten, diesem Drang nach mehr zu dienen. Dass es jahr­zehn­te­lang nicht gelang, Umwelt- und Klima­er­for­der­nis­se zu verwirk­li­chen, ja nicht einmal vorsich­tig selbst­ge­steck­te Ziele zu errei­chen, deutet auf das Aufein­an­der­tref­fen zweier sich grund­sätz­lich wider­spre­chen­der Kollek­tiv­hand­lungs-Para­dig­men hin. Seit vielen Jahren versu­chen sowohl Poli­ti­ker als auch Wissen­schaft­ler verschie­dens­ter Fach­ge­bie­te, eine Brücke zu schla­gen. Ein grünes Wachs­tum wäre die Lösung dafür, das eine nicht lassen zu müssen und das andere zu verfol­gen. Die Entkopp­lung des Ressour­cen­ver­brauchs vom wirt­schaft­li­chen Wachs­tum sei der Königs­weg. Es mutet als fauler Kompro­miss an, der besten­falls zu einer Verlang­sa­mung des destruk­ti­ven Prozes­ses taug­lich erscheint. Es besteht die Gefahr, dass man wert­vol­le Zeit verliert und dem Ökosys­tem Erde irrepa­ra­bler Scha­den entsteht.
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Im Ergeb­nis prokla­mie­ren wir auf unzäh­li­gen „Gipfeln“ weit in der Zukunft liegen­de Klima­zie­le, die drohen zur Maku­la­tur zu werden. An einen grund­le­gen­den Umbau des Wirt­schafts- und Geld­sys­tems traut man sich nicht heran. Was kann das bedeuten?
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Das Kollek­tiv­handl­unsg­ziel „Klima­schutz“ ist nicht mit dem als Kollek­tiv­han­deln weit­aus älte­ren Kapi­ta­lis­mus verein­bar, dessen Maxi­men Wachs­tum, Gewinn, Kapi­tal­ren­di­te uner­schüt­ter­lich erschei­nen. Diese Unver­ein­bar­keit könnte dazu führen, dass die erstar­ken­den Kräfte der Klima­be­we­gung, das gesam­te Wirt­schafts­sys­tem aushe­beln. Das Kind mitsamt dem Bade ausschüt­ten. Die Forde­run­gen, die aus Aktiv­krei­sen der welt­wei­ten „Fridays-for-future“-Bewegung an Poli­tik, Wissen­schaft und Wirt­schaft gestellt werden deuten darauf hin, denn sie sind in aller Regel nicht verein­bar mit einem Wachs­tums­stre­ben. Ein Neben­ein­an­der beider kollek­ti­ver Notwen­dig­kei­ten wird im Detail nicht erforscht. „Grünes Wachs­tum“ ist unge­eig­net. Es fehlen Unter­su­chun­gen dahin­ge­hend, wie Null­wachs­tum oder gar Schrump­fung erreich­bar ist, ohne das Sozi­al­we­sen in seiner Exis­tenz zu gefähr­den. Ein bis heute nicht prak­ti­zier­ter Lösungs­an­satz ist die Frei­wirt­schaft mit ihrer Geld- und Boden­re­form. Ihr wert­vol­ler Kern ist geeig­net, Klima­zie­le in Einklang mit einer funk­tio­nie­ren­den Wirt­schaft zu brin­gen und über­dies das Sozia­le zu ertüch­ti­gen. Die Ener­gie der poli­ti­sier­ten Jugend und der vielen Bürger und Orga­ni­sa­tio­nen, die sich für Wandel einset­zen kann mit einem Wirt­schafts­kon­zept ange­rei­chert werden. Eine Aufga­be, die oben­drein noch eine in den drei „F“ verbor­ge­ne Verbin­dung hat.
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Herz­lich grüßt Ihr Andre­as Bangemann
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